Erfahrungsbericht Eva

Wann ist das passiert? Seit wann ist der leichte Druck des Halsbands, dessen Verschluss sich immer in meinen Haaren verhakt und zwickt und zupft, bis ich aufgebe, mich befreien zu wollen, seit wann ist dieser leichte Druck mir angenehm geworden, ein gewisses Schutzgefühl, das paradoxerweise gerade von dem klobigen Ding an meinem Hals ausgeht,
obwohl es jederzeit in die Luft fliegen könnte, wenn ich mich nicht an die Regeln halte? 

Heute Abend ist das Halsband der Grund, warum mich niemand angreifen wird. Warum es niemand von all diesen Wahnsinnigen aus den Wastelands wagen wird, auch nur den Lauf seiner Waffe auf mich zu richten. Denn ich bin der große Preis auf diesem Sklavenbazar. Ich und mein Wissen aus dem Bunker, die Setzlinge in meinem zerschlissenen Rucksack, sollen an den Höchstbietenden versteigert werden. Während wir warten, nestle ich also an meinem Halsband, auch wenn Knüppel gesagt hat, dass das gefährlich sein könnte. Ich muss irgendwas tun, mich irgendwie ablenken. Am
liebsten möchte ich mich irgendwo hinten in der Halle mit den liegegebliebenen Autos verstecken, vielleicht in Joachims Bastelecke oder ich weiß nicht, aber andererseits: Es gibt kein Entkommen. Hier genauso wenig wie im Bunker 12-44.

Die Gebärmaschine/Botanikerin/Bunkerfrau

Als Erstes bin ich zu der Gruppe mit den weißen Strichen im Gesicht gegangen, die Gesellschaft, vielleicht potentielle Käufer. Doch sie zücken ein Buch von irgendeinem Fromm
und lesen mir vor, dass das Privateigentum der Gesellschaft gehöre. Ob Sklaven denn auch
Privateigentum seien, ist meine erste Gegenfrage, als sie kurzzeitig aufhören, diese
gottverdammte Zahlenfolge zu brüllen, die ihr Markenzeichen zu sein scheint. Aber nein,
beruhigt man mich. Die Gesellschaft habe kein lebendes Eigentum abseits von Nutztieren.

Nutzen will mich noch jemand: Die Frau mit den dreckverschmierten Puppenköpfen im Haar und dem unheimlichen, starren Blick. Sie sagt, ich sei unberührt. Sie sagt, sie könne mich zu einer Gesellschaft bringen, in der nur Frauen leben und die große Mutter anbeten. Sie sagt, ich sei wertvoll. Aber eigentlich will sie nur meine funktionsfähige Gebärmutter. Ich antworte, ich hätte schon eine Mutter, auch wenn das falsch ist. Ich hatte eine, damals in B- 12-44. Jetzt habe ich nur noch die Setzlinge.

Die Setzlinge
Genau die will die Gesellschaft haben: Wertvolle, gentechnikfreie Stücke für ihren Garten. Ich erkenne Begeisterung in den Augen ihres Koches, als ich ihm meine Minze zeige. Sollen sie mich doch kaufen, denke ich. Es wäre das Beste.
Und dann Apple. Ich sehe sie aus dem Augenwinkel, aber das kann nicht wahr sein. Ich habe sie doch im Bunker zurückgelassen. Ich habe gedacht, sie würde niemals gehen wollen, egal, wie sehr die Systeme versagen würden. Aber da steht sie an der Bar und unterhält sich lebhaft, neben ihr andere aus B-12-44. 

Sie muss es sein.

Ich drehe mich um und lehne mich hinter eine Säule, um durchzuatmen. Mitten im Raum fängt mich ein Mann ab, um zu kontrollieren, ob ich noch alle Zähne habe. Habe ich. Dem Bunkerzahnarzt sei Dank. Der Mann will noch wissen, ob ich lesen kann, dann hält er mir ein Fläschchen unter die Nase. Ich soll den Duft bestimmen, zucke aber nur mit den Achseln. Rose, sagt er misstrauisch. Das solltest du als Botanikerin wissen. Rosen sind ausgestorben, erwidere ich, aber er lächelt nur. Er werde mich retten, verkündet er daraufhin. Ich solle mir keine Sorgen machen. Wir kennen uns zu diesem Zeitpunkt keine fünf Minuten, aber er meint das todernst. Nicht ganz so ernst meint es Leech aus dem Bunker, als er und Shell plötzlich hinter mir auftauchen, nachdem ich ihnen den ganzen Abend aus dem Weg gegangen bin. Machst du wieder Ärger, Eva? Das fragt er und da muss ich zugeben, dass sie echt sind. Dass meine scheißverdammte Vergangenheit mich bis hierhin eingeholt hat. Ich lache nervös auf, knete meine Finger und schaue auf den Boden. Was soll ich schon sagen? Ich liebe Apple, ich wäre gerne mit ihr zusammen gewesen, aber in B-12-44 war kein Platz für uns und deshalb bin ich gegangen? Bin wegen einer lächerlichen Schwärmerei blindlings in die Wastelands gelaufen, nur um jetzt als Sklavin verkauft zu werden? Nein, lieber nicht. Stattdessen stammle ich nur nervös irgendwas, bis ich es endlich wage, die einzige Frage zu stellen, die mich wirklich interessiert: Wie geht es Apple? Sie antworten nicht.

Nachts streifen kreischende Ghule rund um den Bazar. Ich höre sie nach sechs Monaten hier draußen kaum noch.

Die Rettungsmission
Als ich aufwache, blinkt mein Halsband schon wieder und Knüppel ist nicht da. Also laufe ich durch die langen Hallen, frage alle, die mir über den Weg laufen - nichts. Ich habe keine Uhr, kann also nicht sagen, wie lange ich noch habe. Nur dass ich Knüppel dafür hasse, dass sie immer ausschlafen muss. Fast als genieße sie den morgendlichen Nervenkitzel, nicht zu wissen, wen von uns sie noch am Leben vorfinden wird, wenn sie sich endlich aus den Federn bequemt. So oder so ähnlich denke ich, als ich den Frühstücksraum betrete - und mich plötzlich in Apples Armen wiederfinde. Sie hält mich fest, länger als sie müsste, länger als sie sollte und länger als sie je hat. Als sie loslässt, weiß ich, dass ich gerettet bin, ohne Zweifel. Wenn es eine kann, dann sie.

 Der Startpreis
Mittags müssen wir uns entlang der Wand aufstellen, unsere leuchtenden Halsbänder in einer ordentlichen Reihe. Während ich darauf warte, dass Auktionator Censored mich nach vorne holt, um mich zu präsentieren und meinen Startpreis zu verkünden, rauscht es in meinen Ohren. Ich will ihnen allen entgegen schreien, dass sie verschwinden sollen. Hier gibt es nichts zu sehen. Erst recht nicht mich, die angepriesen wird, wie ein Stück Vieh. Eine unberührte, wertvolle Botanikerin. Haha. Censored stülpt mir seinen Zylinder über, als ich vorne stehe als wäre ich ein Hutständer. Als er ihn abnimmt und ich nach hinten soll, platzt es aus mir heraus. Sie hauen euch übers Ohr, rufe ich. Ich bin absolut wertlos. Aber das ist auch schon alles, was ich mache. Und niemanden kümmert es auch nur einen feuchten Dreck. Mein Startpreis liegt bei 120 Kronkorken. Ich habe noch nie so viel Geld auf einem Haufen gesehen.
Stellt sich heraus: Der Truppe aus B-12-44 geht es genauso. Keine Sorge, wir schaffen das, sagt Pixi zu mir, aber ihrem verträumten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hat sie wieder Mal eines ihrer Pülverchen geschluckt und ist nicht zurechnungsfähig. Was also tun? Ich frage die Gesellschaft, die gerade dabei ist, einem der ihren die Kehle
durchzuschneiden, um ihm ins Elysium zu verhelfen. Wie wär's mit einem Deal, frage ich den Koch. Ihr bekommt die Minze und ich bin frei. Ich versuche nicht daran zu denken, was meine Mutter tun würde, wenn sie mich jetzt sehen könnte. Wie ich ihre Setzlinge versteigere, um meine eigene Haut zu retten. Erbärmlich. Und doch. Sie wusste nicht, wie
die Wastelands wirklich sind. Sie hätte gar kein Recht, mich zu verurteilen.

Der Mechaniker
Plan B. Auf dem Bazar gabeln wir einen Mechaniker im roten Overall auf, der sagt, er könne das Halsband knacken. 1 zu 3, dass ich dabei sterbe. Ich zögere keine Sekunde. Als er über mir steht, die Spannung misst und mit einem Skalpell an den Drähten herumschabt, ist mir schlecht. Bevor er losgelegt hat, wollte ich Apple noch sagen, dass ich sie lieb habe, aber so mutig war ich dann doch nicht. Jetzt sehe ich sie aus dem Augenwinkel auf dem Boden knien, die Hände um ihren Rosenkranz geschlossen. Ich denke, wenn es einen Gott gibt, dann muss er sie jetzt erhören.
Und wenn ich jetzt sterbe? 

Ich habe zu viel Zeit darüber nachzudenken, während der Mechaniker ein Liedchen summt. Mein Herz rast. Dann richtet er sich auf. Alle sehen ihn an. Nichts. Keine Explosion. Apple stößt einen erleichterten Schrei aus. Ich vergrabe das Gesicht in den Händen.

Die Versteigerung
Auf dem Bazar herrscht Chaos, als wir zurückkommen. Draußen vor den Toren hat sich Justice aufgebaut, irgendwas mit einer Waffe. Ehrlich, keine Ahnung. Aber wegen dieser ganzen Aufregung stehe ich nun in der Halle, waffenlos und mit entschärftem Halsband, aber weglaufen kann ich erst wieder nicht. Wenn dich nicht die Gesellschaft kauft, wird hier ein Tumult ausbrechen, sagt die Frau mit den Puppenköpfen. Du bist naiv, wenn du denkst, dass du hier rauskommst. Sie kämpfen um dich, Mädchen. Als ob jetzt irgendjemand verkauft werden würde, will ich antworten. Aber da irre ich mich.
Der Bazar hat stattzufinden egal, was passiert, hat der Boss verfügt, lautstark über die aufgebrachte Menge und ihre gezückten Blaster hinweg. Also zückt Censored seine Waffe, zielt auf mich und schreit, ich solle herkommen. Ich hebe die Hände, zitternd, als ich nach vorne gehe; vermeide es, den Lauf anzusehen, den er immer noch auf mich gerichtet hat, während er weiterbrüllt, irgendwas, ich verstehe seine Worte nicht mehr. Ich habe die Hände auf die Ohren gepresst und sperre die Welt aus, als plötzlich Enjoy da ist. Ihr Sklavenhalsband ist verschwunden. Alles wird gut. Sie drückt mir ein rostiges Messer in die Hand und ich schließe die Finger darum. 140 Kronkorken, so wird es später heißen, hat die Gesellschaft für mich hingeblättert. Hastig bringen sie mich nach draußen. Ich denke, sie werden mich mitnehmen, in ihr Lager und mir dort einen Strich aufmalen, den ich behalten darf, bis sie mir die Kehle durchschneiden, weil
ich ihnen nicht mehr nutze. Ich will Apple noch einmal sehen, aber sie drängen mich weiter. Dann der Koch. Er sagt, er hätte einen Deal mit mir. Meine Freiheit gegen die Setzlinge aus meinem Rucksack. Ich weine fast vor Erleichterung, als ich sie herausziehe und hastig Instruktionen gebe. Pass auf sie auf, sage ich. So wie meine Mutter es zu mir gesagt hat und irgendwie, ich weiß nicht, ich glaube, er wird es tun. Aber andererseits: Ich bin ja nur ein dummes, naives Mädchen.


Die Wildrosen
Später, als es dunkel wird und wir unser Lager in den Wastelands aufschlagen, die Bunkerleute, die Ghuljäger und ich, da muss ich wieder an die Frau mit den Puppenköpfen denken. Apple neben mir, die sich gerade einen eingetretenen Nagel aus der Schuhsohle zieht und Pepper, die eine Packung Kekse herumreicht. Von den guten, die die Bunkerleitung
immer für besondere Anlässe unter Verschluss gehalten hat. Naiv hat die Frau mich genannt, um mich für ihren eigenen Zweck zu gewinnen und sie hat mich unterschätzt. Sie alle haben mich unterschätzt. Seht her, hier sitze ich zitternd auf dem kalten Boden und ich entscheide selbst, wohin ich gehe. Und in diesem Moment bin ich, vielleicht zum allerersten Mal, verdammt stolz auf mich.
In der Nähe unseres Lagers wachsen Wildrosen. Ich habe sie gesehen, als wir querfeldein geflüchtet sind, mein Rucksack leicht ohne die Last der Setzlinge. Die Blüten wuchern entlang des Trampelpfades. Und ich weiß noch, ich bin stehengeblieben. Es gibt sie also doch, habe ich gesagt, eine gepflückt und mir in die Haare gesteckt.