Erfahrungsbericht-Drei

Der Atem geht schnell und schwer, wir rennen ohne Pause. In meinen Ohren rauscht das Blut, mein Herz rast. Tess neben mir scheint es genauso zu gehen. Wir halten erst an, als wir einen Hügel erreichen, mit Büschen als Deckung. Wir müssen weiter, dürfen nicht zögern, doch was sich da unter uns abspielt ist wie hypnotisierend. Die Kolonie, unsere Heimat, unsere Zuflucht, unser Ticket in ein besseres Leben, eingehüllt in Rauch und Feuer. Verdammt, es ist lange her, dass wir sowas abgezogen haben...

Vier Jahre. Auf den Tag genau vier Jahre lang hab ich es geschafft, wieder ein normales Leben zu führen. Keine Morde, keine Schutzgelderpressung, keine rivalisierenden Banden, die mir eine Kugel verpassen wollen. Stattdessen ein warmes Bett, regelmäßige Mahlzeiten, und, dank einiger Abmachungen mit Bonner und Dog, ein recht stressfreies Leben. Scheiße, mir sind die anderen sogar ans Herz gewachsen. Und dann diese Morde, und die verdammten neuen Soldaten, die alles aufmischen. Plötzlich ist der bequeme Alltag vorbei, ersetzt durch ständige Bedrohung, ständige Wachsamkeit. Wie schnell man doch in alte Gewohnheiten zurückfällt.

Einen Tag. Es hat nicht mal einen Tag gedauert, und die Neuen haben zwei von uns kalt gemacht, viele andere sind verletzt, mich eingeschlossen. Scheiße, die blöde Hand tut höllisch weh. Zum Glück die Linke, ich werde die andere noch brauchen hier draußen. Das Wasteland ist gnadenlos.

Ein Tag, und schon haben wir Pläne geschmiedet. Ein kleiner Trupp, nur Tess und ich, Gunnar und Emilia, vielleicht noch Rain. Wenige, kompetente Leute, die wissen was sie tun. Vorräte klauen und dann ab ins Wasteland. Scheiß auf die Belohnung, die Justice uns für unsere Arbeit schuldet, scheiß auf den Kaiser. Ich hab nicht vor, mich für Justice oder das Versprechen von Geld von Frömmel umlegen zu lassen. Fuck, ich hab schon Junkies und Guhle mit mehr Selbstbeherrschung getroffen.

Aber dann haben sie Gunnar erwischt und umgelegt, nicht wegen uns, wegen irgendeiner anderen Scheiße. Weil Salty geredet hat. Salty hat uns alle verraten. Salty, der ich vertraut habe, der ich Dinge aus meiner Vergangenheit erzählt habe. Ich weiß nicht warum sie es getan hat, und am Ende ist es auch egal. Wichtig ist nur, dass sie es getan hat. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mich oder Tess an diesen schießwütigen Idioten ausgeliefert. ahaben wir umgeplant. Niemandem wird mehr vertraut, es gibt nur mich und Tess, so wie früher. Verschiedene Pläne werden durchdacht, wann und wie wir abhauen, aber die Neuen haben uns auf dem Kiecker, beobachten uns. Genau wie früher. Wie schnell man doch in alte Gewohnheiten zurückfällt.

Die Soldaten sind unvorsichtig, abgelenkt, und die Lagerkammer unbewacht. Aber während ich Vorräte sammle hat Tess herausgefunden, was wir hier eigentlich herstellen. Eine scheiß Waffe, was genau wissen wir nicht, ist aber auch egal. Ein Waffe, die das Ödland reinigen soll, mitsamt der Kolonie. Eine Waffe, wie sie Justice nicht bekommen darf. Egal, was es kostet...

Wie schnell man doch in alte Gewohnheiten zurückfällt. Wir haben abends gehandelt, als alle beim Essen waren. Die Wache zu betäuben war einfach. Sie haben den Rekruten zum Wachdienst abgestellt, wie immer. So berechenbar. Doch ich konnte ihn nicht da liegen lassen, ihn, der bisher nichts verbrochen hatte. Die Gasmaske wird ihn schützen, zumindest zum Teil. Das ist es jedenfalls, was ich mir einrede. Tess hat das verbarrikadierte Tor geöffnet, während ich das Feuer gelegt habe. Die unverarbeiteten Chemikalien lagern dort, hoch entzündlich und explosiv, direkt unter der Laborausrüstung, direkt unter den Behältern mit der Waffe. Es wird schnell gehen, wir haben wenig Zeit. Und dann rennen, durch das Tor, fort von der Sicherheit, fort von dem bequemen Leben, ins Wasteland. Die Explosionen ignorieren. Rennen, einfach weiter, immer weiter, keine Pause, bis wir weit genug weg sind, auf diesem Hügel, mit den Büschen als Deckung.

Ein Teil von mir will zurück, ihnen helfen, ihnen alles erklären. Dass wir keine Wahl hatten, dass nur getan haben, was wir mussten, dass es mir Leid tut. Wir gucken auf die vergifteten Ruinen der Kolonie, und ich denke an Dust und seine Lieder, den ich ins Loch eingeladen habe. Ich denke an Sevilla und ihre schwache Kondition, die jetzt dem Wasteland ausgesetzt ist, an die gutmütige Miri, deren ewig positive Einstellung mich so oft aufgeheitert hat, und an Trixy, die verdammte Kuh, die am Ende vielleicht doch nicht das Schlimmste in der Kolonie ist. Ich denke an Rain und ihre Geschäfte mit den Raidern, und an die neuen Arbeiter, die eben erst die lange Reise aus Justice hinter sich haben, arme Schweine, sogar an Bonner und Dog, mit denen man immer reden und handeln konnte, und Horn, der mich verarztet hat.

Aber ich denke zurück an die vergangenen Tage und an die Leute, die ich Freunde nannte, und die schmerzhafte Erkenntnis kommt, dass ich ihnen nicht trauen kann, keinem von ihnen. Salty hat uns verraten, die hilfsbereite, freundliche, aufrichtige Salty. Einmal mehr werde ich daran erinnert, dass es nur uns gibt, Tess und mich, alle anderen warten nur auf die Gelegenheit, um uns in den Rücken zu fallen. Wie schnell man doch in alte Gewohnheiten zurückfällt.

Es fällt mir schwer, mich abzuwenden. Wir werden uns durchschlagen bis zum Lager der Raider, ihnen erklären was passiert ist und was wir getan haben, auch was die Justiceschweine mit ihren Leuten gemacht haben. Wenn alles gut geht geben sie uns Unterschlupf, bis wir stark genug sind. Dann werden wir uns ins Wasteland schlagen. Wohin aber? Zurück nach Justice, nach Staubstadt? Sicherlich würden wir wieder einen Platz finden, einmal Slagger, immer Slagger. Aber was dann, vier Jahre harte Arbeit, nur um am Ende wieder am Anfang zu stehen? Stattdessen vielleicht bei den Raidern bleiben? Wir beide haben nützliche Talente, wir würden sicher gut reinpassen. Oder doch einfach das Wasteland durchwandern?

Aber das sind alles nur Möglichkeiten. Eine Sache nur ist sicher. Tess und ich werden durchkommen, werden überleben, zusammen. So war es schon immer. Wir haben schon Schlimmeres überstanden.

Ein letzter Blick auf die qualmende Kolonie. So viel Rauch und Gas. Ich hoffe, dass zumindest einige von ihnen durchkommen. Möglich ist es, sie sind hart im Nehmen, mit vielen Fähigkeiten zwischen sich aufgeteilt, und sie haben Bonner und seine Leute. Ich hoffe, sie überleben, ich hoffe, dass sie verzeihen, was wir getan haben. Und wenn sie es schon nicht verzeihen, so hoffe ich doch, dass sie es zumindest verstehen.

Schließlich reiße ich meinen Blick los, richte ihn auf das Wasteland, Tess neben mir. Automatisch suche ich Wege, halte Ausschau nach Gefahren, spähe nach Verstecken. Wie schnell man doch in alte Gewohnheiten zurückfällt...