Erfahrungsber. Sgt. Heinrich Tanosba

Die Knochenmannliste. Neben Tod durch Erschießung die Höchststrafe für Verräter und Mörder. Einziger Grund, warum man darauf landet, ist derjenige, dass man aufgrund seiner eigenen Kompetenz - oder in meinem Fall dem Nachnamen - noch irgendeinen Wert für Krüger, die Ministerien oder den Kaiser selbst hat.

Verstohlen blicke ich den Spalier, den Platoon 06 und seine zukünftigen neuen Mitglieder gebildet haben, entlang. Und ich blicke in Entsetzen, Schock, Unverständnis und über allem anderen…. Resignation. Jedes noch so leise Zeichen eines möglichen Widerstandes gegen "das System", jede noch so vage Idee eines "besseren Justice" mit einer einzigen Urteilsverlesung durch Kommandant Krüger höchstpersönlich aus den Gesichtern, Gehirnen und vermutlich auch den Seelen der Anwesenden gewaschen, so von diesen noch etwas übrig gewesen sein sollte - und ich bin da keine Ausnahme. Ich sehe Elias auf Knien darum flehen, man möge ihn nach voller Härte bestrafen und das Platoon verschonen. Ich sehe die Enttäuschung Radovans, dass er nicht in der Lage ist, die Rache an Krüger zu nehmen, die er sich schon viel zu lange wünscht (und die viel zu viele Leben gekostet hat). Ich sehe die blanke Angst in den Gesichtern mancher junger Soldatinnen und Soldaten, die den Begriff "Knochenmannliste" bisher nur als böses Märchen abgetan hatten und jetzt plötzlich mit der Realität konfrontiert werden. Ich weiß, ich sollte schockiert sein. Ich weiß, ich sollte Angst haben, was morgen wird. Aber Tatsache ist, es ist mir auf eine eigenartige Art und Weise... egal. Mehr noch, ein Teil von mir begrüßt, was uns jetzt bevorsteht…

Doch drehen wir die Zeit ein paar Stunden zurück. Ich sitze beim lieben Fräulein van Brecken, ihr Schlägertrupp steht hinter mir, und hat mir für das Verlachen dieser "Befragung" gerade zwar zwei Rippen angeknackst, war aber ansonsten geradezu zuvorkommend. Muss wohl am Nachnamen liegen. Ich werde nach den üblichen und mittlerweile fast zu erwartenden Dingen befragt: Nach dem Aufkommen systemkritischen Gedankenguts, nach Geheimnissen, die ich auf Basis nicht existenter Sicherheitsfreigaben nicht wissen darf und nach Cordula. Ich beantworte die Fragen so gut ich kann - und will - wahrheitsgemäß. Van Brecken weiß das. Ich weiß, dass van Brecken das weiß. Van Brecken weiß, dass ich weiß, was sie weiß. Sie gibt sich damit zufrieden. Weil sie ohnehin weiß, was ich weiß - oder es zumindest in allzu naher Zukunft ebenfalls wissen würde.

Daher - und weil unser Nachname ist, der er ist - ist eigentlich nichts passiert. Die Rippen zeugen schon fast von Samthandschuhen, die Blutabnahme und die Infusion wirken mehr nach Routine als sonst etwas. Was ist los, macht ihr euch Sorgen, dem Alten erklären zu müssen, dass die "Liebkinder" den Einsatz als Einzige nicht überlebt haben? Natürlich nicht. Jetzt gibt es eben das Urteil mit der Knochenmannliste, übrigens auch vom Alten ganz aktiv unterstützt und, weil ich so einen unbelehrbaren Fall und die Fleisch gewordene Enttäuschung für die Familie darstelle. Krügers Urteil fußt darauf, dass wir am Basar einen "Krieg begonnen haben, für den das Militär von Justice nicht bereit ist". Gratuliere, Krüger. Du hast gerade den Soldaten, die du für ihren Mangel an Loyalität bestrafen willst, erklärt, dass sie nicht loyal zu Justice stehen brauchen, weil das Militär, wenns hart auf hart kommt, ohnehin verlieren wird. Weil ihre Brüder und Schwestern in den Schützengräben ohnehin draufgehen, wenn man sich nur einmal aus der Deckung wagt. Kein Wunder, dass dieses Militär nie weit genug sein wird. Sie haben keinen Grund, daran zu glauben, zu etwas Größerem fähig zu sein, als zum absoluten Selbstzweck, nämlich zum Fortbestand dieses bereits drei Jahrzehnte - und damit schon viel zu lange - andauernden Krieges beizutragen.

Für einen kurzen Moment frage ich mich, ob aus Krüger die Verzweiflung spricht, oder doch die Anerkennung, die er nur nicht zeigen kann, weil er sonst selbst die größte Lachnummer unter den Ministern ist. Tatsache ist: Krügers Urteil befreit uns. Als Angehörige jener Liste, "von der noch nie jemand zurückgekehrt ist", ist es dem gesamten Rest von Justice nur allzu bald egal, was aus uns wird. Das heißt: Keine Politik mehr, keine Hintertürgeschäfte mehr, keine geheimen Absprachen in abgedunkelten, versperrten Kommandoständen mehr. Es gibt nur noch uns, das Platoon, und die, und das sind entgegen der landläufigen Meinung alle anderen. In diesen wenigen Minuten nach der Urteilsverkündung wird erst laut, dann schweigend ein Blutspakt geschlossen. Dieses Platoon ist eine Familie, weil es die einzige Familie ist, die es noch hat.

Sei es wie es sei. Die Konsequenz aus der Knochenmannliste ist die Rückkehr an die Front, mit einer neuen Mission. Wir stehen bei 28 Jahren, 11 Monaten und 18 Tagen.

Wir rücken am Folgetag direkt aus, um einen Überläufer zu jagen. Dr. Otto Kernberg, geflohen aus dem Zukunftslabor, angeblich mit einem ganzen Haufen an kritischen Geheimnissen. Man fragt sich kurz, wie viele kritische Geheimnisse eine Fraktion wohl so verlieren kann, bevor sie von ihren Feinden nicht mehr ernst genommen wird. In den folgenden zwei Wochen hat das neu geformte und gewachsene Platoon 06 Zeit sich kennenzulernen und sich gegenseitig am Leben zu halten. Wir gehen - erneut - durch die Hölle, und diesmal ist sie verdammt nah an dem, was mal ein Zuhause war. Wir sind in den Herzlanden unterwegs, jagen die Zielperson und finden seine Familie. Im Grenzgebiet, allein gelassen in ihrer Armut und Angst vor streunenden Ghulen. Ein viel zu leichtes Opfer für den auch hier präsenten Kult der unsichtbaren Flamme. In den Wahn und den Kannibalismus getrieben, haben sie sich Kernbergs angenommen. Die Erschießung erfolgt schnell und schnörkellos. Kein Grund, sich länger damit aufzuhalten als notwendig. Die Familie Kernberg war schon sehr viel länger tot, das hat man alleine am Grinsen des Sohnes gesehen.

So nah an der Heimat, aber sie fühlt sich selten weiter entfernt und fremder an, als jetzt. Ich erkenne das Land, durch das ich mit meinem Squad, meinen Waffenbrüdern und -schwestern wandere, aber ich fühle keine Verbundenheit zu ihm. Ich sehe die Embleme und Fahnen von Justice, aber ich fühle ihre Strahlkraft, und wofür sie stehen sollten, schon längst nicht mehr.

Mit wem ich mich aber verbunden fühle, sind die Rust Rats, die Grunts, sogar Trupp 16 und Squad 4. Egal, warum sie hier sind. Ob Verrat, Mord, Befehlsverweigerung oder auch aus Spaß an der Freude. In den Augen Krügers, der übrigen Minister und dem Rest von Justice sind die Mitglieder von Platoon 06 allesamt gleichermaßen wertlos. Aus den Augen, aus dem Sinn. Und so kämpfen und bluten wir gemeinsam und doch für uns alleine. 21 Männer und Frauen, alleine gegen die Wastelands, gegen das System, gegen die Welt.

Der Gedanke hat etwas Befreiendes. Mit der Knochenmannliste, und den damit kommenden Missionen, nahm man uns die letzte Illusion von Sicherheit. Aber ist Sicherheit nicht genau jene Tauschware, die man für die Aufgabe der Freiheit erhält? Ist die Illusion von Sicherheit nicht genau der Grund, warum so viele Leute innerhalb von Justice mit sich machen lassen, was mit ihnen gemacht wird? Mehr noch: Erhält man aus dem Wegfall dieser Sicherheit nicht umgekehrt genau jene Freiheit zurück, nach der sich so viele Einzelne sehnen?

Das Gedankenexperiment entlockt mir ein Schmunzeln. Mehr noch, es erlaubt mir eine Theorie. Krüger hat uns auf die Knochenmannliste gesetzt, weil er uns für die Missionen einsetzen will, die kaum von Erfolg gekrönt sein können, und für die er keine "normalen" Soldaten verschwenden würde. Im Idealfall überleben wir und erledigen wir, was Krüger will. Wenn nicht, und wir dabei draufgehen, auch nicht schlecht.

Wir werden nur so wenig Ausrüstung und Munition erhalten wie unbedingt notwendig. Wir werden wahrscheinlich mit falschen, auf jeden Fall unvollständigen Informationen versorgt. Krüger wird alles tun, um die ohnehin schon lebensgefährlichen Einsätze nur noch schwerer zu machen. Weil wir ihm ein Stachel im Fleisch sind. Einer, den er aber nicht einfach erschießen kann, eben weil Justice's Militär zahlreichen Aufgaben eigentlich nicht gewachsen ist.

Die Antwort darauf erscheint fast schon logisch. Je höher der Druck ist, dem wir ausgesetzt sind, umso enger rückt Platoon 06 zusammen. Je extremer die Umstände werden, umso widerstandsfähiger werden wir. Wir werden mit den hässlichsten Seiten des Krieges konfrontiert. Wir werden verachtet, gefürchtet und gehasst werden. Und wir werden mehr als nur einmal uns selbst die Frage stellen müssen, ob wir nicht schon längst zu eben jenen Monstern geworden sind, vor denen Justice ihre Bürger nicht eigentlich schützen will. Kurzum, wir werden das unterste Glied der militärischen Nahrungskette bilden.

Aber das heißt auch, dass wir das Fundament sind, auf dem Justice seinen Einfluss überhaupt aufbaut. Elias hatte schon recht, als er meinte, man müsse das System von innen verändern. Er lag nur damit falsch, es auf eine weiche, politische Art und Weise tun zu wollen. Die Herzen von Justice mit Worten zu verändern. Über dieses Stadium sind wir längst hinaus. Mut zur Veränderung bedingt Opferbereitschaft. Und so plane ich, mit Platoon 06, mit diesem Fundament so zu rühren, dass dadurch Risse im Elfenbeinturm, den sie sich über Jahrzehnte gebaut haben, entstehen.

Am Ende will ich ihnen allen zu verstehen geben, dass das System Justice in seiner gegenwärtigen Form nicht der Weisheit letzter Schluss ist.

Am Ende will ich ihnen zeigen, dass Justice mehr sein kann und muss, wenn es der in den Jingles beworbene Hoffnungsschimmer sein soll - wenn man Ereignisse wie die Kernbergs tatsächlich verhindern will.

Und vor allem will ich am Ende Krüger, van Brecken und ganz besonders "den Kaiser" daran erinnern, dass Justice noch nie eine Lösung, sondern immer nur eine Reaktion auf die gegebenen Umstände war. Aufwändiger und umfassender, aber im Endeffekt genauso richtig oder falsch wie die Hinrichtung einer kannibalistischen Familie, die ihren eigenen Ehemann und Vater verspeist haben..

Und zu guter Letzt werde ich Ludwig Tanosba, meinem Vater, gegenübertreten. Als freier Bürger und damit dem lebenden Beweis, dass er nicht alles und jeden kontrollieren kann.