Erfahrungsbericht Lea van Mar

 Bang. Der Körper des Soldaten erstarrte, dann kippte er gleich einer Marionette, der man die Fäden durchtrennt hatte, vorüber. Ich wartete, ein, zwei Momente, dann trat ich voran und rammte meinen Fuß in seine Seite. Mit einem dumpfen Laut rollte der Mann von dem deutlich kleineren Körper herunter, über den er sich noch wenige Augenblicke zuvor mit einem ekelerregenden Eifer hergemacht hatte 

Mein Blick fiel auf das verdreckte Gesicht darunter, auf die bebende Brust und die in das schäbige Leinen verkrampften Hände. Ich wandte mich auf dem Absatz herum. Mein Weg führte mich zurück durch die Leichen meiner eigenen Leute und die geschundenen Körper der Dorfbewohner, die den Zusammenprall mit der Gerechtigkeit nicht überlebt hatten. Ich spürte nichts. Keine Reue. Keine Trauer. Kein Mitleid. Die Soldatin in mir funktionierte. Mit akribischer Genauigkeit durchsuchte ich die verfallenen Hütten bis ich fand, was ich suchte:
Kleidung. Ich schlüpfte hinein, ließ meine Rüstung achtlos auf den Boden fallen. Mein Plan war weit davon entfernt gewesen, ausgereift zu sein. Wie auch? Bis der erste Schuss die Schädeldecke des Justice-Soldaten vor mir zertrümmert und somit sein erbärmliches Leben
innerhalb nur eines Herzschlages beendet hatte, war mir nicht einmal bewusst gewesen, dass ich nun Verrat begehen würde. Verrat an meinem Glauben, Verrat an meiner Herkunft, Verrat an Justice. An Krüger. Als ich wieder aus dem Haus heraus trat, war die Sonne bereits dabei, hinter den schiefen Wellblechdächern zu verschwinden. Blinzelnd starrte ich voran. Das Massaker vor mir wirkte im rötlichen Schein der Sonne beinahe romantisch friedlich. Ein verqueres Bild, welches meine Brust zusammendrückte und mir den Atem abschnürte. Eine gespenstische Stille hatte sich über das Tal ausgebreitet. Warum ich die Schritte hinter mir erst wahrgenommen habe, als es zu spät war, weiß ich nicht. Meine Hand zuckte wie selbstverständlich an meine Seite und zu der Waffe, die nicht mehr dort war. Und dann kam sie, die alles umspannende Dunkelheit, die mich in ihrem wirbelnden Strudel mit sich in den Abgrund riss.

Als ich wieder erwachte, war es, als würde ich die Oberfläche eines dunklen Sees durchbrechen. Mit einem Mal wurde alle Luft zurück in meine Lungen getrieben, die Müdigkeit fiel schlagartig ab. Japsend und nach Atem ringend setzte ich mich auf, die Schlingen des Abgrunds hinter mir mühselig abzuschütteln versuchend. Ich wusste nicht, wo ich war, hatte vollkommen die Orientierung verloren, meine Gedanken in ein wirbelndes Chaos verstrickt. Konfuse Schemen tanzten an mir vorbei, manche schneller, manche langsamer, ein Karussell der Eindrücke, welches mich prasselnd in die Knie zwang. Keuchend kippte ich voran, versuchte mich ein weiteres Mal aufzurappeln. Als einer der Schemen ruckartig näher zuckte, übernahm reflexartig die Soldatin in mir. Stolpernd schoss ich in die Höhe und überwand die Distanz, bevor der Schemen es tun konnte. Keinen Herzschlag später hatte meine Faust bereits ihr Ziel gefunden. Ein Keuchen, die Gestalt taumelte zurück. In meinen Ohren rauschte das Blut wie ein tosender Wasserfall, das Adrenalin zuckte elektrisierend durch meine Adern.

Am Rande meines Bewusstseins nahm ich meinen Namen wahr. Meinen Namen? Hatten sie mich gefunden? Noch bevor der Gedankengang finalisiert werden konnte, rammte mich etwas zur Seite. Schraubstockartig schlossen sich Arme um meinen Körper und zwangen mich ein ums andere Mal in die Knie. Lea. Lea! Lea. Alles ist gut. Lea, beruhige dich. Ich bin da. Ich bin da, alles wird gut. Ich kannte diese Stimme, meinte sie zu kennen. Warum sprach sie zu mir? Was wollte sie von mir? Der Griff wurde fester, zog sich zusammen, hielt mich in seinem Bann, bis ich erschlaffte, bis der Galopp meines Herzens in einen müden Trab überging, bis die Soldatin in mir sich ergab. Und immer noch sprach die Stimme zu mir und immer noch fiel es mir schwer, sie zu greifen, zu begreifen. Erst als sich mein Blick nach und nach zu klären begann, erst als ich meine Umgebung bewusster wahrnahm, sah ich es. Sah ich ihn. Seine hellen Augen waren unverkennbar und auch wenn es Jahre gewesen waren, Jahrzehnte gar, seit ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, so erkannte ich ihn doch sofort. Mein Fleisch und Blut. Meinen Bruder. Ewald. Und mein eben noch über sich selbst stolperndes Herz setzte schlagartig aus. Als ich die Hand anhob und meine Finger beinahe schon zögerlich in seine Richtung ausstreckte, blieb die Zeit um uns herum für den Bruchteil eines Momentes stehen. Unvermittelt war die Angst wieder da - die Angst, die mich schon als Kind hatte erstarren lassen. Die Angst, dass, wenn ich die Hand nur weit genug ausstreckte, er nicht mehr da sein würde. Und irgendwann war er auch nicht mehr dagewesen, der Platz neben mir leer. Stattdessen waren dort andere Schemen gelegen, die zitterten und bebten wie ich selbst, während unbekannte Stimmen im Hintergrund harsche Befehle in den Raum gebrüllt hatten. Der Beginn vom Ende, wie ich es als Kind wahrgenommen hatte. Aber es hatte ein langes Ende werden sollen, eines, welches sich über Jahrzehnte der Tortur und straffen Orientierung hinweg gestreckt und an dessen Schluss ich ganz oben gestanden hatte. An seiner Seite. Aber nun war er da, mein Bruder, musste es sein. 


Meine Fingerkuppen stießen auf Widerstand, strichen über die raue Haut darunter. "Ewald", flüsterte ich leise, beinahe tonlos, aller Kraft beraubt, selber wieder wie ein Kind, damals, bevor Justice gekommen war und mir all das genommen hatte. "Ewald", stieß ich ein weiteres Mal hervor, dieses Mal etwas kräftiger, als könnten meine Worte allein sein Dasein in eine feste Existenz zwingen. Seine Lippen verzogen sich zu einem kruden Lächeln und als er mich dieses Mal an sich zog, war es die feste Umarmung, die mir erneut den Atem raubte, während sich meine eigenen Hände fast schon verzweifelt in seinen Rücken gruben als ich endlich den Halt fand, den ich nie wieder geglaubt hatte, zu spüren. Und als mein Gesicht sich in seine Schulter grub spürte ich noch etwas anderes, was ich längst verloren geglaubt hatte, tief begraben unter der Soldatin, zu der man mich geformt hatte: Tränen. Die Anspannung der letzten Wochen, die geschundenen Körper der Dorfbewohner, die hingerichteten Kadaver meiner Leute, Krüger, Elias - all das rückte für den Moment hinter den wohligen Schleier der Vergessenheit während ich meinen Bruder umklammert hielt, als gäbe es kein Morgen. 

"Auseinander", fuhr uns eine mir unbekannte Stimme an und etwas kaltes legte sich auf meinen Oberarm, drückte etwas zu. Blinzelnd sah ich auf und zur Seite. Der Mann, der sich zu uns gesellt hatte, war mir fremd - ebenso die teilweise ratlosen, teilweise verängstigten oder auch offen feindseligen Gesichter, welche die Szenerie von sicherer Entfernung aus mitverfolgten, und die mir erst jetzt auffielen. "Wer ist sie, hm? Was habt ihr beide miteinander zu schaffen, Bandersnatch?", seine Stimme war kehlig, unfreundlich, sein Gesicht hart. Bevor ich den Mund zu einer Erwiderung öffnen konnte, zog Ewald mich weiter, weg von dem Mann, weg von seiner Frage. Mein Blick blieb haften an den Mimiken derer, die uns nicht aus den Augen lassen wollten, bis Ewald meinen Fokus mit sanfter Gewalt zu ihm zurückdrängte. "Lea", begann er wieder leise, leiser als zuvor, in seinen Augen ein strahlendes Funkeln. "Ich kann es nicht glauben, dass du hier bist. Nach all den Jahren!" Der Mann, der uns bereits vorher unterbrochen hatte, machte erneut Anstalten, sein Vorhaben zu beenden. Mein Körper spannte sich ein ums andere Mal an während Ewald eins ums andere Mal versuchte mich zu beruhigen. "Sieh mich an. Wir sind nun zusammen, alles wird gut!".

Etwas störte. Meine Hand zuckte wie von selbst empor und ertastete einen Fremdkörper um meinen Hals, den meine Finger zu erkunden begannen. Sofort folgte Ewalds Hand und drängte die meine sanft aber bestimmt in eine andere Richtung. "Lass es, ich erkläre dir alles. Greif es nicht an". Mein Blick ging zurück, fing seine hellen Augen ein, die Lippen pressten aufeinander. Wo war ich hier bloß gelandet?

Als ich zwei Stundenläufe später meinen Becher mit einem metallenen Klirren wieder auf den Tisch prallen ließ, war ich bereits wie erschlagen, aber zumindest noch nüchtern. Sie hatten mich gefunden. Nicht Justice. Noch nicht. Sklavenhändler. Ich wusste nicht, was das bessere Schicksal gewesen wäre - das einfachere. Vermutlich keines davon, aber nun lag es auch nicht mehr in meiner Hand. Das Band um meinen Hals hatte sich als meine Lebensversicherung und gleichzeitig mein Todesurteil herausgestellt - und solange ich es nicht losbekommen konnte, würde ich hier nicht rauskommen. Von all den Orten, von denen die rechte Hand Krügers hätte landen können, war es ein Sklavenbasar gewesen - eine Ironie, wie sie nur den Wastelands einfallen konnte.

Mein Blick glitt wieder voran, fokussierte den Eingang. Ich war darauf vorbereitet, jeden Moment gerüstete Soldaten hindurchströmen zu sehen, die mich gefangen nehmen und zu Krüger zurückschleifen würden. Tot oder lebendig?, wunderte ich mich. War es überhaupt schon aufgefallen, dass ich weg war? Und zählte das überhaupt noch, oder hatte ohnehin keiner mehr angenommen, ich würde lebend zurückkehren und das Ausbleiben meiner Rückkehr war bereits Grund genug für Krüger, sich entspannt zurückzulehnen und meine Akte zu schließen? Ein weiteres Rädchen in der Maschinerie, welches bedauerlichen Umständen zum Opfer gefallen war. Weiter zur Tagesordnung. Konnte ich auf seine Arroganz vertrauen, die ihn stets davon ausgehen ließ, sein Plan würde sich ohne Komplikationen zu voller, zufriedener Blüte entfalten oder hatte er Leute geschickt, die sichergehen sollten, dass seine ehemals rechte Hand auch tatsächlich dort war, wo er sie haben wollte, nämlich weit genug unter der Erde um sich auch am jüngsten Tag nicht mehr hervorgraben zu können?

Meine Finger hatten wie von selbst begonnen, eine Kakophonie nervöser Muster auf den Tisch zu trommeln, während ich meinen Blick schweifen ließ. Zu allem Überfluss war auch noch Cashier - Censored, wie ihn seine Leute nannten - und mit seine Leute meinte ich die Sklavenhändler. Eben jene, die mich an dem Ort aufgegriffen hatten, der mein Leben eigentlich hatte verändern sollen. Der mir die Freiheit hatte schenken sollen - was auch immer das für eine Bedeutung in den Wastelands gehabt hätte. Wie hatte Kürgers Gesicht wohl ausgesehen, als seine Späher über das Dorf, in welches er mich zum Sterben geschickt hatte, nur ein Massaker hatten berichten können? Ein Massaker, welches den verseuchten Wüstenboden mit dem Blut gottloser Verbrecher und noch mehr unschuldiger Bürger getränkt hatte - nicht aber mit dem Blut seiner rechten Hand? War er wütend gewesen? Erleichtert? Vielleicht war er doch noch Mann genug, es selbst hinter sich zu bringen. Der Gedanke entlockte mir ein kehliges Lachen. Niemals. Krüger legte nicht selbst Hand an, dafür war er sich zu schade. Zu feige.

Schwere Schritte ließen mich aufhorchen. Blitzartig zuckte mein Blick zurück durch den Raum, vorbei an den feilschenden Hehlern mit ihrem Einkaufswagen voller unwichtiger Schätze, vorbei an der Buchhalterin der Shamrocks - ihrer Sklaventreiber - welche gerade versuchte, mein Leben in Korken oder Schillingen aufzuwiegen, vorbei an all den feiernden Gesichtern und hin zu den beiden, schweren Eisentüren, welche in dem Moment mehrere Soldaten in den Raum hinein ausspuckten. Mit einer fließenden Bewegung war ich auf den Beinen. Die Kapuze tief ins Gesicht ziehend, wandte ich mich von den hereinströmenden Justice-Soldaten ab und suchte mein Heil in der Dunkelheit des angrenzenden Raumes. Dort war ich nicht alleine. Der Schlächter von Unterberg, Radovan, hatte ebenso wenig Interesse daran von Justice entdeckt zu werden - immerhin hatte auch er unzählige Justice-Soldaten nicht nur ausgelöscht, sondern davor auch noch aufs grausamste gefoltert. Und wie ich hatte er noch eine Rechnung mit Krüger offen. Zumindest das einte uns in trauter Zweisamkeit. "Denkst du, sie haben uns gesehen?" Ich schüttelte den Kopf, während ich das Treiben von unserem Versteck aus mit Argusaugen beobachtete. "Ich denke nicht - siehst du jemanden, den du kennst?" Der Schlächter lehnte sich voran, seine dunklen Augen scannten den Raum, dann lehnte er sich wieder zurück, nickte knapp. "Der da, mit der Augenklappe. Diente einst mit mir. Heinrich. Sergent Heinrich Tanosba." Ich folgte seinem Wink und fokussierte die hochgewachsene Gestalt, die sich gerade ausgezeichnet in unserem Sichtfeld platziert hatte. Sehen, aber nicht gesehen werden. Ich versuchte zu erkennen, mit wem er sprach, als sich eine andere Person in meinen Fokus schob und mein Herz jäh aussetzen ließ. Es war, als würde ich in einen eiskalten See fallen, dessen Dunkelheit mich unbarmherzig in ihre Tiefen hinab zog. Für den Moment hatte ich Schwierigkeiten zu atmen, während tausende Gedanken gleichzeitig auf mich einzuprasseln begannen. Was tat er hier? Ich presste mich gegen die Wand, schloss die Augen und atmete tief durch. Wieso war er hier? Hatte Krüger ihn geschickt? Als Rache? Wusste er, dass ich hier war und wollte, dass die Waffe, welche mein kümmerliches Leben schließlich doch beenden sollte von gerade dem Mann geführt wurde, den ich einst mit allem, was mir gegeben war, geliebt hatte? Es vielleicht immer noch tat? Die Augenlider empor zwingend, riskierte ich einen weiteren Blick um die Ecke, während Radovan mich interessiert im Blick behielt. Seine Hände waren vor der Brust verschränkt, ehe auch er meinen Augen folgte. "Elias, hm? Du kennst ihn?"

Am liebsten hätte ich aufgelacht. Kennen war weit von dem entfernt, was wir zueinander waren. Gewesen waren, zumindest. Was wir nun waren, wusste ich nicht. Immerhin hatte er es mir zu verdanken, dass ihn die Hölle ein weiteres Mal ausgekotzt hatte - nur als wer, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Alles, was ich wusste war, dass er recht gehabt hatte. Immer schon. Mit allem. Und ich hatte es ihm genommen, als ich versuchte, ausgerechnet sein Leben zu retten. Sein Leben zu retten. Ich schnaubte leise bei dem Gedanken, wütend über mich selbst. Hätte ich nur früher erkannt, dass er die Wahrheit in leuchtenden Lettern vor sich hergetragen hatte, ich stünde vermutlich heute nicht hier, in der Dunkelheit, mit einem hämisch leuchtenden Halsband, welches ich alle paar Stunden wie ein Hund aufziehen lassen musste, um nicht zu sterben. Hätte ich ihm vertraut, wäre alles anders gekommen. Aber das war es nicht. Zu sehr war ich dem System verschrieben gewesen, zu sehr hatte mein Idealismus mich geblendet. Und am Schluss? Hatte es mich alles gekostet, was mir geblieben war. Auch ihn. Die Holzperlen vor dem Durchgang ergingen sich in einer verzerrten Kakophonie, als der Schlächter hindurch schritt und schlicht den Justice Trupp anzusteuern begann. Die
Gespräche verebbten teilweise, Elias dunkle Augen flackerten empor, suchten die Quelle der plötzlichen Geräusche. Unsere Blicke verhakten sich ineinander. Er erstarrte ebenso wie ich zuvor. Ein, zwei Herzschläge hielt die Welt um uns herum den Atem an, dann hob er kaum merklich die Hand an seiner Seite in einer abwartenden Gestik an. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er die Sachlage erfasst und war bereit zu handeln. Ich sah keinen Hass in seinen Augen, keine Wut, keinen Wunsch nach Vergeltung. Lediglich die Überraschung mich an einem Ort wie diesen wiederzusehen. Überhaupt wiederzusehen. Ich verstand. Es hatte nie viele Worte zwischen uns gebraucht. Ich wandte mich ab und verschwand in der Dunkelheit.

"Was machst du hier?" Seine Stimme war so wohltuend, dass ich nicht anders konnte, als die Lippen zu einem müden Lächeln zu verzerren. Er wirkte besorgt und überhaupt nicht so, wie ich mir diese Begegnung vorgestellt hatte.
"Du solltest mich hassen!", entgegnete ich statt einer Antwort leise und erschöpft, den Blick abwendend. "Warum hassen?" Die Hände in die Hüften stemmend, fokussierten seine dunklen Augen mein gepeinigt wirkendes Gesicht. Er schien ehrlich überrascht. Ich atmete tief durch, hob den Blick wieder an und zwang mich, meinen Fokus erneut voran zu lenken. "Weil du Recht hattest. Immer schon. Mit allem. Ich hätte dir glauben sollen, Elias. Von Anfang an, ich -", meine Stimme brach, die Hände glitten hilflos empor und fielen ungetaner Dinge gleich einer Marionette, der man die Fäden durchtrennt hatte, wieder herab. "Ich hätte dir vertrauen sollen. Stattdessen habe ich dich zurück in die Hölle geschickt, in dem Glauben, dich damit zu retten", ein kehliges Lachen, voller Schmerz und Wut auf mich selbst, war das einzige, was über meine Lippen drang. Elias schüttelte den Kopf, richtete sich wieder auf und machte einen Schritt auf mich zu. Seine Nähe und die Wärme, die er ausstrahlte, erschlugen mich mit einer Wucht, die mich beinahe taumeln ließ. Ich wollte nichts lieber als meine Hand ausstrecken und mich an ihn klammern wie eine Ertrinkende an das letzte Stück
Treibholz. Aber ich konnte nicht. Nicht hier. Nicht jetzt. Zu viele Blicke lagen auf uns beiden. So nah und doch so fern. Ich atmete tief durch, ballte die Hände zu Fäusten und zwang seine Nähe aus meinem Bewusstsein. "Lea, das Indoktrinationscamp war das Beste, was mir hätte passieren können! Es hat mir die Augen geöffnet. Es hat mir den Weg gezeigt, den ich gehen muss. Wie ich alles verändern kann - von innen heraus!", seine Stimme war fest, kein Zweifel schwang darin mit. Ich wandte mich ab, kehrte ihm den Rücken zu um ihn nicht an dem Schmerz teilhaben zu lassen, den
seine Worte in mir auslösten. Das Beste, was mir hätte passieren können. Meine Wangen brannten unter der Wut, die in mir emporzukochen begann. Alles deine Schuld, flüsterte eine hämische Stimme in ihr Ohr. Du hast ihn dazu gemacht, du hast ihn gebrochen. Ihn zerstört. Für immer. Seine Flamme ausgelöscht. Mit einem verzweifelten Laut machte ich einen weiteren Schritt von ihm weg, mein Kopf flog in den Nacken, Unmut stolperte über meine
Lippen. Ich brauchte einen Moment, um mich zu sammeln, brauchte einen Moment, bis mein über sich selbst taumelndes Herz sich wieder einigermaßen gefangen hatte. Als ich mich dieses Mal herumwandte und mein Blick sich in seinen dunklen Augen verlor, war es Resignation, die sich in mir breit machte.

"Ich habe so hart für dich gekämpft. Für uns. Immer, und immer wieder. Ich habe deinen Hals so oft aus der Schlinge gezogen bis Krüger ihn durch meinen ersetzt hat. Und ich würde es jederzeit wieder tun - aber das...du...das Camp...", orientierungslos deuteten meine Hände in seine Richtung, fielen dann ein weiteres Mal an meinen Seiten herab, während Elias Stirn sich zu furchen begann. "Von was sprichst du?", wieder machte er einen Schritt auf mich zu und wieder trieb seine Nähe mich an den Rand des Wahnsinns, wieder spannte sich mein ganzer Körper an um dem
Drang zu widerstehen, ihn einfach zu packen und mit ihm das Weite zu suchen. Hinaus in die Wastelands, weg von hier. Weg von allem, was sie je zurückgehalten hatte. Weg von Krüger. Weg von ihrer beiden Verpflichtungen, weg von Justice. Nur sie beide. Alleine. Für die Ewigkeit.

"Denkst du, dass du noch am Leben bist, weil Krüger so viel Liebe für dich empfindet? Du bist am Leben, weil ich immer und immer wieder meine Loyalität bei Krüger aufs Spiel gesetzt habe, um dich zu retten. Damit er dein Leben verschont. Ein ums andere Mal, bis es nicht mehr gereicht hat. Und nun, stehe ich am Abgrund. Verflucht, ich bin längst darüber hinaus getreten. Er hat mich bereits zum Sterben weggeschickt." Ich sah, wie Elias innerlich verfiel, wie seine Mimik sich für den Bruchteil einer Sekunde wie unter Schmerzen verzerrte, bis die Stoik auf sein Gesicht zurückkehrte. Dann war er wieder der Soldat, um dessen Selbstdisziplin und Kraft ich ihn immer schon beneidet hatte. Hinter seiner Stirn begann es zu arbeiten, während sich Schweigen zwischen ihnen auszubreiten begann. Ein, zwei Momente vergingen,
dann nickte er und straffte seine Gestalt. "Ich stehe in deiner Schuld. Ich werde dich hier rausholen. Du hast mein Wort". Dann wandte er sich ab und war im nächsten Augenblick verschwunden. 


Der metallische Geschmack in meinem Mund ließ mich so lebendig fühlen, wie lange nicht mehr. Das Blut rauschte durch meine Ohren und blendete die Welt um mich herum durch sein monoton statisches Dröhnen aus. Der Schlag hatte gesessen. Natürlich hätte ich ihn abwehren können - wer von klein an zu einer Soldatin herangezogen worden war, konnte kaum noch von etwas Derartigem überrascht werden. Aber ich wollte ihn geschehen lassen, wollte den
körperlichen Schmerz, der damit einher ging, vollends auf mich einprasseln lassen. Ich wollte etwas fühlen. Etwas, was die Schreie in meinem Kopf überdeckte, die seit Stunden nicht mehr ruhig sein wollten. Etwas, was den Bildern Einhalt gebot, welche unkontrolliert vor meinem inneren Auge vorbei zuckten. Ewald, wie er beinahe von dem Ghul erschlagen wurde. Ewald, wie er sich alleine ins Getümmel stürzte. Wie ich ihn beinahe ein weiteres Mal verlor, nachdem ich ihn erst so kurz wiedergefunden hatte. Cas, wie er langsam in die Verzweiflung abrutschte. Cas, wie ich die Hoffnung hinter seinen Augen hatte sterben sehen, nachdem ich ihm von Elias erzählt hatte. Elias, wie er mir etwas von Liebe ins Ohr flüsterte, so lange her. Elias und ein Moment der Zärtlichkeit. Einer von Wenigen. Elias. Elias. Elias. Wie er mit seinen Leuten auszog, um vielleicht dieses Mal nicht wieder zurückzukehren. Ein Lächeln, das er mir einer schieren Ewigkeit schenkte. Brutus Augen, die eine ganz andere Geschichte als die meine erzählten. Brutus, der mir für einen Moment sogar so etwas wie Hoffnung gab. Brutus, der in dieser Welt verloren sein würde. Das Blinken des Halsbandes und die erschrockenen Gesichter, die davon erleuchtet wurden. Elias, wie er zurückkam. Elias, der seine Hände um mich schlang und mich an sich zog. Elias, wie er abgeführt wurde. Elias, den ich vor meinem inneren Auge sah, als ich Krüger um sein Leben anflehte. Elias. Elias. Elias. Seine Mimik war hart wie eh und je. Er kämpfte ums Überleben und für Ideale, die ich längst verloren hatte. Tanosba, der mir in einer ungesehenen Sekunde salutierte und mich daran erinnerte, was
einst war und wieder sein könnte. Wenn ich doch nur dafür kämpfte. Aber konnte ich das noch? Elias dunkle Augen. Krügers harte Stimme. Eine zum Salut erhobene Hand. Stolz. Angst. Neue Kraft. Verzweiflung. 

Wieder spuckte ich einen Schwall Blut auf den staubigen Boden vor mir und beobachtete die Linien, welche die kleinen Tropfen zu zeichnen begannen. Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse und stemmte mich auf meine Ellenbogen. Nein. Es würde hier nicht enden. Nicht mit mir im Staub. Nicht dieses Mal. Keuchend rappelte ich mich in die Höhe und wischte das Blut mit einer wütenden Bewegung zur Seite. Edgar hatte mir den Rücken zugewandt, gerade selbst seinen Stand suchend, als ich ihm bereits nachsetzte. Mit einem hässlichen Geräusch grub sich meine Faust in sein Gesicht und ließ ihn wanken - jedoch nicht für lange. Nicht weniger ein Kämpfer als ich, setzt er mir sofort nach. Ein ums andere Mal explodierten wilde Sterne hinter meiner Stirn und ließen mich zurück taumeln, als auch seine Faust auch ihr Ziel
fanden. Elias. Wild pochte mein Herz, als ich den Boss der Shamrocks zu Boden rammte. Krüger. Meine Knöchel platzten auf, als ich einen Schlag nach den anderen setzte. Ich war unkoordiniert, hatte längst die Kontrolle über den Moment verloren. Ein Salut, der alles veränderte. Sein Körper wuchtete mich zur Seite und zurück in den Dreck, aus dem ich gerade emporgekrochen war. Ich spürte seine überlegene Masse auf mir, als er mich zu Boden rang und seinerseits auf mich einzuschlagen begann. Ich ließ es geschehen, nahm jeden Schlag wie eine wohltuende Erlösung an. Elias. Krüger. Hoffnung. Als die Schläge abebbten, brannte jede Faser meines Körpers wie Feuer. Jemand zerrte mich in die Höhe und bugsierte mich in Richtung der offenen Türen nach draußen. Ich nahm nichts mehr um mich herum wahr. Die Welt war verkommen zu einem wilden Karussell aus Schmerzen und Übelkeit. Und dennoch zuckten meine Mundwinkel fast schon unweigerlich empor. Ich hatte wieder einen Grund zu kämpfen. Elias.


"JUSTICE HAT SICH HINTER DER HALLE VERSCHANZT", waren die aufgeregten Worte gewesen, die schließlich alles ins chaotische Rollen gebracht hatten. Ab da war es schnell gegangen. Ich und der Schlächter hatten unsere Halsbänder loswerden müssen - und überraschenderweise, war es ohne Probleme gegangen. Niemand hatte sich mehr um uns
gekümmert, und das, obwohl wir die beiden Schlüsselfiguren gewesen sind, die Justice hatte haben wollen. Und so sind wir entkommen - durch einen leeren Gang, durch ein offen stehendes Fenster. Hinten hinaus. Hinter die Reihen von Justice. Zurück zu all jenen, aus deren eiserner Umklammerung wir erst unter Einsatz unseres Lebens entkommen waren. Zurück zu der Gerechtigkeit, deren verseuchte Versprechungen uns alles gekostet hatten. Zurück ins Ungewisse. Zurück zu Elias.

Als wir schließlich unser letztes Gespräch geführt haben, hatte ich bereits alles verloren. Mein Bruder, war nicht mit uns gekommen. Unser Abschied war überraschend und knapp gewesen - wie schon vor so vielen Jahren, einander entrissen in zwei verschiedene Richtungen, ungewiss, ob wir uns je wieder sehen würden. Cas würde sich opfern für eine Zukunft, die nicht mehr die seine sein würde. Vielleicht würde er sich auch vollkommen umsonst opfern. Und er hatte es mir nicht einmal gesagt. Er hatte das für sich entschieden und Elias hatte mich darüber lediglich informiert. Ich würde ihn verlieren, ohne ihn je wirklich gehabt zu haben. Und Elias selbst? Er würde für seinen Höhenflug bitter bezahlen müssen. Für meinen Verrat. Für mein Versagen. Für meine fehlgeleitete Loyalität. Auch er hatte mich nicht gefragt, war nicht daran interessiert gewesen, was ich dazu zu sagen hatte. War davon ausgegangen, ich würde ihn einfach ziehen lassen. Dabei war Krüger mein. Immer schon gewesen. Wenn sein erbärmliches Leben jemand beendete, dann würde es meine Hand sein. Seine Rechte. Aber ich hatte kein Wort gesagt. Stumm hatte ich Elias angestarrt, während jedes Wort, das aus seinem Mund stolperte mein Herz ein Stückchen weiter zerriss, bis es in Fetzen hing und unfähig war, noch etwas zu empfinden. Und als alle Worte gesprochen waren, als er mich verstoßen hatte, wenn auch nur für den Moment und wenn auch nur zu meinem Schutz, hatte ich sein Gesicht in meine Hände genommen und seine Wärme für einen letzten Moment in mir aufgenommen, vollkommen ausgekostet, wenn auch nur so gering, bevor ich gegangen war. Ich hatte in diesen beiden Tagen alles gewonnen und alles wieder verloren, alles wie Sand durch meine Finger rieseln sehen, wie Staub, der vom Wind davongetragen wurde. Geblieben war mir nichts außer dieser winzige Funken von etwas, was ich nicht länger geglaubt hatte, empfinden zu können:

Hoffnung. Ich würde Elias da raus holen und ich würde für die Zukunft
kämpfen, die er immer für uns gesehen hatte, selbst als ich noch zu taub und zu blind war, zu erkennen. Ich würde beenden, was seine Worte vor so langer Zeit in mir begonnen hatten.  
An seiner Seite. Zusammen. Für immer.

Kommandant Krüger: Ich komme für euch.