Erfahrungsbericht der Verräterin

Wisst ihr noch, wie es ist, nach Hause zurück zu kehren? Habt ihr überhaupt einen Ort, den ihr mit diesem antiquierten Begriff bezeichnen könnt? Einen Platz, an dem man bleiben darf, an dem man willkommen ist, an dem man zur Ruhe kommen kann?

Ich habe mein Zuhause gefunden. Es war nicht das Gebiet, in dem ich geboren wurde, noch die Absteige, in der ich aufgewachsen bin. In der ich erlebt habe, was es heißt, unerwünscht und trotzdem gebraucht zu sein. Mein Zuhause waren Menschen - Menschen, die mich fanden als ich längst aufgegeben hatte. Menschen, die ihre Hand nach mir ausstreckten und mich aufnahmen, als wäre ich eine von ihnen - als wäre ich immer schon eine von ihnen gewesen. Sie gaben mir einen solchen Ort, den ich Zuhause nennen konnte. Durfte. Und zum ersten Mal wusste ich, wo mein Platz in der Welt war. Was meine Aufgabe sein würde. Wo meine Reise mich hinführen würde.

Aber ich versagte. Und mein Zuhause war nicht mehr.

Es war ein unbeschreibliches Gefühl, welches da meine Brust beflügelte, als die Umrisse der Gebäude sich aus der Nacht schälten und ich wusste, dass wir angekommen waren. Wieder zurück. Wieder dort, wo alles einst begonnen hatte - und wo auch alles enden würde.

Es war seltsam, dorthin zurückzukehren - ein Ort, an dem ich alle Höahen und Tiefen hatte erfahren dürfen, ein Platz, der mir zum ersten Mal das Gefühl gab, sein zu dürfen. Dazu zu gehören.Meine Finger kribbelten und ich hatte Angst, meine Beine würden unter mir ihren Dienst aufgeben, versagen und mich stürzen lassen. In den Dreck, den ich einst meine Heimat nannte. Mein Herz raste mit meinem Atem um die Wette, in den Ohren rauschte das Blut. Ich wusste, dass es verlassen sein würde. Ich wusste wo sie waren, wo sie sein würden. Und ich wünschte nichts mehr, als bei ihnen zu sein. Doch noch konnte ich nicht,- noch war meine Zeit nicht gekommen, der Zugang zum Heil verwehrt. Ich musste mich erst beweisen, musste erst einen Weg finden zu zeigen, dass ich würdig war - würdig, wieder in die Familie aufgenommen zu werden.Wie viel Zeit war vergangen, seit man mich verstoßen hatte? Seit ich die Wastelands alleine durchwanderte, verzweifelt auf der Suche nach einem Weg, zurückkommen zu dürfen? Ich weiß es nicht mehr. Meine Erinnerungen waren zerflossen zu einem undurchsichtigen Nebel, der morgens um die Häuser schlich und jedes Geräusch verschluckte. Es mochten Stunden gewesen sein, vielleicht auch Wochen. Ich hatte es verdrängt, weit zurück gedrängt in die hintersten, dunkelsten Ecken meines Geistes um nicht mehr daran erinnert zu werden, was ich getan hatte. Wie ich versagt, wie ich enttäuscht hatte. Es war unverzeihlich gewesen und ich habe alles verdient, was danach gekommen ist. Ich habe sie alle verloren. Erst meinen Sohn. Dann Arthur. Und schlussendlich meine Familie. Hätten sie mich nicht verstoßen, ich wäre selbst gegangen, die Schmach als Bürde auf meinen Schultern mit mir nehmend, abwartend, bis sie mich zerquetschte, erdrückte unter ihrer Last. Ich wollte sterben. Und plötzlich, wollte ich leben.

Als sie aus dem Unterholz stolperten, wusste ich, dass das unsichtbare Feuer sie mir geschickt hatte um wieder gut zu machen, was nicht mehr gut zu machen war. Es war ein kleiner Funke der Hoffnung, doch als eine Jüngerin des Feuers wusste ich, dass oft ein Funke bereits ausreichte, um die Flammen ungehalten auflodern zu lassen. Ich konnte es spüren, seine Wärme, wie sie mich ummantelte und mir leise flüsternd eine letzte Chance zusprach. Eine letzte Möglichkeit, mich zu beweisen. Zurückzukehren dorthin, wo ich hin gehörte. Ich würde sie nicht verstreichen lassen.

Sie nahmen mich auf, gaben mir zu essen und sorgten sich um mich - soweit sie das neben ihren eigenen Problemen eben konnten. Wir waren alle Suchende nach etwas, was wir zuhause nennen konnten. Und ich würde ihnen eines geben - eines, wo sie ihre letzte Ruhe finden konnten. Ihre Sicherheit für mein Heil.

Ihre letzte Bleibe war überrannt worden, sie hatten keine andere Wahl als zu gehen, zu suchen, einen neuen Ort zu finden, an dem sie sich niederlassen konnten. Und ich zeigte es ihnen. Ich half ihnen, wo ich konnte. Aß mit ihnen. Lachte zu ihren Worten. Und nebenbei beobachtete ich, harrend, von der Ferne, manchmal auch mittendrin. Ich wartete, lauerte, hoffte auf meine Möglichkeit. Und sie vertrauten mir, ihre Sicht vernebelt von den eigenen Sorgen, unfähig die Gefahr zu erkennen, die dicht vor ihnen das tägliche Brot mit einnahm. Meine Zeit würde kommen.

Und als die erste Nacht noch nicht vollkommen um war, kamen sie. Meine Familie. Ich wollte nichts mehr als zu ihnen zu laufen und mich vor ihnen in den Staub zu werfen. Um Vergebung zu bitten, eine Vergebung, die ich nicht verdient hatte. Noch nicht. Aber ich musste warten. Meine Zeit würde kommen. Und dann würde ich zeigen, dass ich es wert war, zurückzukehren, es noch einmal zu versuchen, den Mantel der Schmach abstreifend, neu geboren im heiligen Feuer, das alles verschlang.

Zuerst nahm ich ihren Koffer. Den Koffer, der sie am Leben erhielt. Den düsteren Boten des herannahenden Sturms. Oh, wie blind sie waren, wie sie ihre Augen vor dem Heil verschlossen. Konnten sie nicht sehen, dass der Sturm das war, was Erlösung bringen würde? Sie schliefen. Ich aber, war wach. So wach wie lange nicht mehr. Und ich nahm ihnen das letzte, mit dem sie sich vor dem Erwachen hatten schützen wollen. Schluss damit. Der Morgen war gekommen, der Traum vorüber. Es galt, den Tatsachen, der Wahrheit, dem Heil ins Auge zu sehen.

Danach nahm ich ihre Medizin und damit die letzte Hoffnung, sich gegen die Auswirkungen des Heils zur Wehr zu setzen. Sie würden alle brennen - brennen für das Feuer, brennen für die Erlösung, die sie bald erwarten würde. Nicht mehr lange, dann würden sie alle erwachen. Aber für sie würde es zu spät sein.

Ich tat alles, was ich konnte, um ihr Dasein zu sabotieren, um sie direkt in die feurige Umarmung meiner Familie zu treiben. Und als der Moment gekommen war, nahm ich meinen Sohn aus seinem eisigen, dunklen Grab und drückte ihn fest an mich, um ihm die Wärme zu geben, die ihm verwehrt worden war. Eine Wärme, die ihm das Feuer hätte geben sollen, für das er bestimmt worden war und dass er niemals erfahren würde. Weil ich versagt hatte. Zusammen würden wir wiederkehren, zurückkehren in die Gemeinschaft, aus der wir verstoßen worden waren. Und alles würde gut werden.

Aber am Schluss war es das nicht, reichte nicht aus. Das Verfehlen zu groß, die Opfer zu gering. Was nutzten die unfruchtbaren Leben, wenn das Heil zum Greifen nah gewesen war, nur um entrissen zu werden wie ein Kind der Brust seiner Mutter? Der Vater verzieh nicht. Und er war gerecht darin. Musste ein Exempel statuieren. An mir. An meinem Heil. Versagen wurde nicht verziehen. Und dennoch empfand ich in diesem Moment nichts als Freude und Zufriedenheit - ich hatte sie wieder gesehen, meine Familie. Hatte den Saum seines Gewandes berührt, in sein Gesicht geblickt. Ich war zuhause angekommen. Wir waren zuhause angekommen. Selbst wenn die Pforten für uns verschlossen bleiben würden. Ein letztes Mal noch in deren Mitte, ein letztes Mal einer von ihnen.

Als ich starb, starb ich zufrieden. Als ich starb, starb ich nicht allein.