Erfahrungsber. Charlotte "Charly" Roth
Mein Vater hat immer gesagt, dass den Mutigen die Welt gehören würde. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ich bin mir sicher, viele Väter haben das zu ihren Kindern gesagt, um sie zu etwas zu bewegen. Aber für mich hatte dieser einfache Satz immer eine ganz besondere Bedeutung gehabt. Ohne diesen Satz wäre ich heute mit Sicherheit nicht dort, wo ich war. Und vermutlich wäre das besser gewesen. Aber was nutzte diese Reue, wenn es längst zu spät war?
Während ich hier saß und in das prasselnde Feuer starrte, gingen mir Gedanken durch den Kopf, die mich, wäre ich nicht bereits Teil der Knochentruppe gewesen, spätestens dann ohne Umschweife dorthin gebracht hätten. Vor einigen Monaten noch hätte ich nie für möglich gehalten, dass ich einmal diejenige sein würde, die an dem Konstrukt Justice zweifeln würde. Ich? Baby Justice? Was für ein dummer Name. Aber sie hatten es geschafft - sie hatten es geschafft, binnen weniger Stunden auch das letzte magere Fleisch von den Knochen zu nagen, die dem ausgemergelten Gerippe dieser einst glorifizierten Idee noch als Stütze gedient hatten. Von meinem feurigen Eifer, mein Leben wie Vater für die gerechte Sache zu geben, war nicht einmal mehr die schwelende Asche naiver Begeisterung übrig geblieben. Ich hatte gedacht, Kommandant Krüger zu treffen wäre die größte Ehre, die meinem mickrigen Dasein je zuteilwerden würde - stattdessen stellte dieser Nachtmahr mit nur wenigen Worten mein Leben vollkommen auf den Kopf, als er meine triviale Existenz unter der Stahlkappe seines Stiefels für immer auslöschte. Wegen eurer schändlichen Desertation. Wie hatte er davon erfahren? Hatte er überhaupt davon erfahren oder hatte er einfach nur gemutmaßt? Und machte es überhaupt einen Unterschied? Am Schluss würden wir alle tot sein, auf die eine oder andere Art, da machte ich mir keine falschen Vorstellungen.
Mutter hatte oft genug hinter vorgehaltener Hand von diesen Todeskommandos gesprochen. Mutter hatte immer viele Dinge gewusst. Und ich denke, Mutter hat sie gehasst. Alles davon. Und das nicht erst seit dem Tod Vaters. Ihr Kartenhaus war schon vor vielen Jahren in sich zusammengebrochen und an seine Stelle war resignierte Akzeptanz getreten. Ich hatte es nur nie bemerkt. Während ich in meinem törichten Eifer blind einer sterbenden Ideologie hinterhergehetzt war, hatte sie ihr Bestes getan, um an der bitteren Wahrheit einer dissonanten Lehre, die ihr ganzes Leben umsonst bestimmt hatte, nicht vollkommen zu zerbrechen. Für Vater. Für mich. Am Ende hatte es nicht gereicht. Am Ende war Vater gestorben. Am Ende war ich trotz allem Flehen und Bitten in den Militärdienst eingetreten. Mit einem unzerstörbaren Lächeln auf den Lippen. Jetzt würde ich Vater stolz machen. Vermutlich hatte ich sie damit endgültig zerstört. Aber auch das machte nichts. Ich würde sie ohnehin nie wieder sehen, denn ich würde bald tot sein. Auf die eine oder andere Art.
Im Feuer vor mir brach ein Holzscheit unter der Last beständiger Hitze knackend in sich zusammen. Knisternde Funken stoben in einem wilden Tanz verstrickt in die Dunkelheit der Nacht empor, bevor sie mit tragischer Bedeutungslosigkeit verglühten und nichts zurück ließen als die Erinnerung heller Punkte, die sich im Gedächtnis meiner Retina eingebrannt hatten. Mein Blick glitt unweigerlich zur Seite, suchte Laszlo, der gerade in ein Gespräch vertieft zu sein schien. Ich versuchte etwas zu empfinden, irgendetwas zu spüren, irgendetwas in mir in Bewegung zu setzen, aber da war nichts mehr. Von der hitzigen Liebe, die bis vor kurzem noch jede Zelle meines Körpers bestimmt und mein Herz hatte höher schlagen lassen, wann immer ich ihn sah, war nicht mehr viel übrig geblieben. Wenn es sie überhaupt gegeben hatte. Vielleicht war sie noch da, tief verschüttet unter den zahlreichen Traumata, die mir der Bluthügel und alles was danach kam, beschert hatten. Vielleicht würden die Gefühle wiederkehren, wenn ich das Knirschen des Kies unter den zahlreichen, durch die Nacht schleichenden Stiefeln nicht länger hörte, sobald ich die Augen schloss. Vielleicht würde die Liebe erneut entflammen, wenn die Schreie der Sterbenden nicht mehr jeden meiner Träume dominieren würden. Vielleicht würde die Verrücktheit frischen Begehrens mich ein ums andere Mal packen und durchrütteln, wenn ich den Blick vergessen hatte, diesen letzten Blick, den mir die Bewohner des Hofes zugeworfen hatten, bevor man sie erschoss. Bevor ich sie erschoss. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Vielleicht würde ich bis dahin aber auch tot sein. Auf die eine oder andere Weise.
Ich weiß nicht mehr, ob wir das Richtige tun, ob wir je das Richtige getan haben. Tun wir das Richtige, oder sind wir nur eine weitere Krankheit, die dieses Land gleich einer nimmersatten Raupe Stück für Stück auffraß? Sind wir das geringere Übel oder das, was den Unterschied machen würde im Kampf um das letzte bisschen erbärmlicher Menschlichkeit, die uns noch geblieben war? Auf welcher Seite mochte ich sein, wenn es so weit war, wenn es darum ging, sich für das, was kommen würde, zu entscheiden?
Mein Leben lang wurde ich zur perfekten Bürgerin von Justice herangezogen, habe meine Mutter tagtäglich in den Radioturm begleitet und meinen Vater zu jeder der überschwänglich zelebrierten Militärparaden. Fahnen wurden geschwenkt, Frauen weinten vor Glück, Kinder spielten in den staubigen Straßen, während die tapferen Männer und Frauen von Justice stolz und stramm an uns vorbei marschierten. Wenn ich heute zurückdenke, beginnt die glorifizierte Fassade der damals alles verherrlichenden Erinnerung nach und nach zu bröckeln. So manch ein Lächeln auf den spröden Lippen der Soldaten und Soldatinnen wirkte gebrochen, die Augen leer. Ein lebloser Körper, der nur noch wandelte, weil er musste, weil er sonst entsorgt wurde. Weil er sonst ins Knochenkommando kam. Als Kind konnte man sich viel einreden, wenn es einem die Erwachsenen nur so glaubhaft als möglich immer und immer wieder eintrichterten. Und die Ehre des Militärs war eine der größten, die man je erlangen konnte. Daran änderte auch der Tod meines Vaters nichts. Immerhin war er als Held gestorben. Das wollte ich auch. Nur meine Mutter erkannte die humorbefreite Tragik dahinter, realisierte das zugrunde liegende gnadenlose System, welches unbarmherzig junge Frauen und Männer zwischen seinen Rädern zermalmte und ihre fahlen Knochen nutzte, um die Löcher im Mauerwerk einer verblassenden Ideologie zu stopfen. Alles unter dem Deckmantel des Heldentums. Nur nicht auffallen. Nur den Schein wahren, so heuchlerisch er auch sein mochte. Justice brachte das Glück. Justice brachte eine neue Ära. Justice brachte die Gerechtigkeit. Es brachte Leben.
Vor allem aber brachte es den Tod. Den Tod in den eigenen Reihen. Den Tod in die Wastelands. Wo immer Justice gleich einer Heuschreckenplage einfiel, blieb nichts zurück als die bleichen, vor sich hin rottenden Fratzen all derer, die nicht schnell genug gelaufen waren. Für die Gerechtigkeit. Für die Freiheit. Für ein selbstbestimmtes Leben. Nur lange genug heldenhaft sein, bis der Verrat am eigenen Ich, an der eigenen Moral, vergessen war. War es das, was mein Vater gedacht hatte, bevor sie ihn als Verräter ausgelöscht hatten? Hatte er sich daran erinnert, wofür er einst gestanden hat? Hatte er bereut? Hatte er versucht, wieder gut zu machen, was längst verloren war? Ich erinnere mich an einen Moment, der längst verblasst war, als ich auf seinen Schultern saß, die kleinen Hände in seine aschfahlen Locken gekrallt, einer trostlosen Parade wandelnder Toter harrend, die jeden Moment stattfinden sollte. Meine kindliche Begeisterung hatte damals jeden Gestank des Todes ausgeblendet, der sich nun, Jahrzehnte später, wieder in mein Gehirn brannte, als wäre es keine Erinnerung, sondern eine gerade entstehende Erfahrung. Seine Stimme hatte unter dem Gewicht der Hoffnung gebebt, als er mir versprach, die Wastelands für uns zu einem besseren Ort zu machen. Ein Ort, an dem wir endlich wieder frei von Angst voreinander leben konnten. Wilhelm Bonner hatte neben ihm gestanden, seine Mundwinkel zu einem verschlossenen Lächeln verzerrt. Ich denke, er hatte es damals schon gewusst. Er hatte gewusst, wie es enden würde. Aber er hatte nichts gesagt, weil es nichts verändert hätte. Mein Vater hat gebrannt für seine Idee und er brannte für seine Familie. Für mich. Nichts und niemand hätte ihn aufhalten können, etwas verändern zu wollen. Es zumindest zu versuchen. Genauso wenig wie mich. Nur den Mutigen würde die Welt gehören. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Vielleicht hätten wir beide etwas mehr zuhören sollen.
Nun war er tot und er ist nicht als Held gestorben. Niemand von uns würde das tun, so sehr wir es uns auch einreden wollten - schon gar nicht im Knochenkommando. Wir waren ausgewählt worden, um zu sterben. Unsere Namen würden auf dem verstrahlten Boden verblassen, bis unsere Gebeine mit dem nächsten radioaktiven Sturm davongetragen wurden. Alles, was dann noch übrig blieb, würden sich irgendwelche Raider an ihre Zelte und Körper heften. Und vermutlich hatten wir das verdient. Vermutlich war es das, was die Gerechtigkeit uns am Ende einbringen würde. Das Land würde sich an uns erinnern und an das, was wir getan haben. Und es würde nicht verzeihen. Genauso wenig wie wir verziehen haben, als sich unsere Läufe auf einfache Menschen richteten, die nichts anderes wollten, als ihre Familien zu ernähren. Nichts anderes als das, was auch mein Vater gewollt hatte. Für eine bessere Zukunft. Für die Hoffnung. Und am Ende war er wohl gleich gestorben, wie die Bewohner des Hofes, die wir gerichtet hatten. Am Ende sterben wir alle gleich. Am Ende sterben wir alleine. Und sein Kadaver war vermutlich ebenso unzeremoniell entsorgt worden, wie jene der Familie entsorgt worden waren, die uns nicht rasch genug Antwort gegeben hatten. Die uns die falschen Antworten gegeben haben.
Justice hat mir alles genommen. Meinen Vater. Meine Unschuld. Meine Hoffnung. Meine Zukunft. Mein Zuhause. Meine Fähigkeit, zu lieben. Sogar die Möglichkeit, meiner Mutter von der einzigen Heldentat zu berichten, die je einen Radiobeitrag wert gewesen wäre. Als ich vor dem Brick stand und mit einer Ladehemmung zu kämpfen hatte, während der Koloss unter bebenden Schritten auf mich zu polterte. Wie mein letzter Schuss sich löste und meterweit neben dem Ungetüm vorbeisurrte. Wie ich das Gewehr zur Seite warf und meine beiden Messer zückte. Baby Justice und das Monster. Wie sie die Zusammenkunft mit einem der gefürchtetsten Ghule der Wastelands überlebte - ein exklusives Interview, nur heute hier bei Radio Justice, moderiert von Susanne Roth. Ich schmunzelte bei dem Gedanken, bis die bittere Realität mich wieder einholte, denn: was machte das noch für einen Unterschied? Ich würde vermutlich ohnehin bald tot sein. Auf die eine oder andere Art und Weise.
Und wenn nicht?, fragte eine leise Stimme in meinem Kopf, während ich hier saß und darüber nachdachte, was ich alles unwiederbringlich verloren hatte, was, wenn du nicht bald tot bist? Wenn nicht, antwortete eine zweite, immer lauter werdende Stimme, dann werden wir Vaters Worte so ernst nehmen, wie noch nie jemand zuvor diese Worte verinnerlicht hat. Dann werden wir Justice zeigen, was Gerechtigkeit wirklich ist. Gerechtigkeit für all die Familien, die sie zerrissen haben. Gerechtigkeit für all die Hoffnungen, die sie unter ihren Stiefeln erstickt haben. Gerechtigkeit für das Land, welches seit Jahren vor ihren Gewehrläufen verendet. Gerechtigkeit für Mutter. Gerechtigkeit für Vater. Gerechtigkeit für all jene, die vertraut haben und unter der Last einer naiven Hoffnung zerschmettert wurden. Gerechtigkeit für Wilhelm Bonner. Gerechtigkeit für Laszlo. Gerechtigkeit für mich. Gerechtigkeit für alle dort draußen die gedacht haben, sie würden das Richtige tun, würden für das Richtige kämpfen, könnten etwas dabei verändern, bevor sie realisierten, nicht mehr als ersetzbares Kanonenfutter zu sein. Gerechtigkeit für alle, die ihre unverzeihlichen Fehler zu spät erkannten und den Preis dafür mit ihrem Leben bezahlten. Gerechtigkeit für Justice. Gerechtigkeit für die Wastelands.
"Und wie willst du das tun?", hakte die erste Stimme spöttisch nach. Ich zuckte nur müde mit den Schultern. Die große Reden schwingende Euphorie hatte nur kurz gewährt. Woher sollte ich das auch wissen? Ich hätte eigentlich damals am Bluthügel mit allen anderen sterben sollen. Baby Justice. Nicht für das Militär gemacht. Nicht der Gerechtigkeit mächtig. Und doch war ich noch hier, zusammen mit den entweder größten Verbrechern oder größten Helden der Wastelands - je nachdem, wen man dazu befragte. Ich wusste nicht einmal, was der morgige Tag bringen würde und welcher davon mein letzter sein könnte, aber ich wusste zumindest eines: nur den Mutigen würde die Welt gehören, denn wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
Und wenn nicht, bemerkte die Stimme ein letztes Mal sarkastisch, bevor sie wieder zu verblassen begann, dann ist es auch gleichgültig, denn bald werdet ihr alle tot sein. Auf die eine oder andere Art und Weise.