Das Tagebuch von Maya

Wenn es nur nicht so scheißkalt wäre, dachte Maya missmutig und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Nächte hier draußen waren immer zu kalt. Oder zu lang. Oder zu dunkel. Vermutlich sollte sie nicht so ein Weichei sein. In der Tonne vor ihr brannte ein munteres Feuer, was wollte sie mehr? Ein Blick in die Runde reichte, um ihre Frage zu beantworten. Fünf Raiderclans. An einem Fleck. Das konnte nicht gut ausgehen.

"...wenn Woyzecks Wichser hier sind, dann kann das nur eines bedeuten", sagte die Queen gerade, und Mayas Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten. "Sie wollen etwas. Etwas Wichtiges." Die schwarzen Augen der Raiderqueen schienen sich durch das Flackern des Feuers zu bohren und sie alle gleichzeitig mit ihrem Blick zu fixieren. "Und was auch immer die Schweine aus Justice wollen, wir werden es ihnen wegnehmen."

Höhnischer Beifall schwappte über die versammelten Clans, von denen Maya nur vereinzelte Namen kannte - dort drüben standen die Irren von den Dead Rabbits, da vorn die zwielichtigen Typen, die von der Donna angeführt wurden, rechts die Leute von Doc Oslek und um Queen Skorpia herum natürlich ihre eigenen Leute, die Black Scorpions. So viele Gesichter und nur ein einziges, dem sie traute. Und trotzdem, in diesem Moment gab es eine Sache, die sie verband: der gemeinsame Hass auf Justice. Vielleicht war das genug, um sie zusammenzuhalten. Um Skorpia zu folgen, egal wie grausam sie war. Weil die Scheiße hier drin weniger stank als die da draußen.

Vielleicht.

Als Skorpia Spähtrupps aussandte, wurde ihr gefolgt. Essen war knapp, Munition auch - und vielleicht fanden sie, wonach auch immer Woyzecks Marionetten suchten, bevor die es taten. Maya war es gewohnt, auf solche Missionen geschickt zu werden. Manchmal kamen nicht alle zurück. An manchen Orten wurde einem plötzlich schlecht, und wenn man keine Tabletten dabeihatte, dann war's das. Hin und wieder lief man Woyzecks Hunden in die Arme. Oder man hatte nicht so viel Glück und traf auf die... anderen. Einmal war Maya dabei gewesen, hatte sich im Gebüsch versteckt und etwas Warmes am Bein hinablaufen gefühlt, während menschenähnliche Kreaturen mit Klauen und Tentakeln und mehr Gliedmaßen als natürlich war, ihre Leute zerfetzt hatten. Deshalb blieb sie nun wie angewurzelt stehen, als plötzlich ein heller Lichtkegel aus der Finsternis zwischen den Bäumen auftauchte, gefolgt von ganz und gar nicht menschlichen Geräuschen.

"Mutanten!", schrie jemand.

Sie riss ihre Waffe hoch. Nicht dass ihr das etwas bringen würde ohne Munition.

Und dann kamen sie zwischen den Bäumen hervor. Ein Ungetüm mit einem Scheinwerfer als Kopf, so wirkte es zumindest in der Dunkelheit, ein Kerl mit riesigen Beulen am Arm - und hatte die da drüben drei Augen? Mayas Puls raste. Ob vor Angst oder vor widerwilliger Faszination, das konnte sie nicht sagen. Sie machte sich bereit - es musste ja irgendwann enden, oder? Doch nichts geschah. Der Kampf blieb aus, und dieses eine Mal kehrten tatsächlich alle von der Spähmission zurück.

Waffenruhe, hatte jemand gesagt. Bis sie wussten, wie die Lage war. Maya blieb keine Zeit, diese Information zu verarbeiten. Denn dann kamen die ersten Ghule.

Sie hatte nie beurteilen können, wo genau der Unterschied lag zwischen Ghulen und Mutanten. Bis heute, dachte Maya, während sie ihre einzig funktionierende Waffe - eine rostige Eisenstange - zückte und schreiend hinter den hölzernen Palisaden hervorsprang. Mit Mutanten konnte man anscheinend reden. Ghule wollten nur eines: töten.

Fleisch platzte, Knochen knackten, Blut spritzte.

Und dann war es vorbei. Für den Anfang. Wie durch ein Wunder kamen auch diesmal alle zurück. Doc Oslek und sein Gehilfe mit dem wahnsinnigen Lächeln flickten ihren Arm zusammen, doch die Wunde brannte, sie hatte bisher nichts zu essen gefunden und Munition hatte sie auch keine. Maya war also nicht gerade bester Laune. Bis ein Haufen von Woyzecks Sklaven auftauchte.

"Wir wollen verhandeln", sagte der Typ, den sie offenbar zu ihrem Anführer gemacht hatten. In seinem Blick lag eine seltsame Mischung aus Selbstsicherheit und Vorsicht. Die Raider lachten höhnisch und nahmen ihn mit. Der Haufen offensichtlicher Wasteland-Neulinge wurde zurückgelassen auf der Wiese, und Maya hockte sich vor einen von ihnen, ein Lockenkopf mit Stirnband und Furcht im Gesicht. Wie gut sie diese Furcht kannte. Und wie sehr er sie verdiente. Justice-Abschaum.

"Na, dein erstes Mal hier draußen in der echten Welt?", fragte sie mit einem bösartigen Lächeln. Er nickte - mehr Antwort als Maya erwartet hatte. "Nicht so schön, wenn Papa Woyzecks Mauern nicht mehr da sind, oder?"

Und trotzdem, als ihr Anführer - Elias, hatte er gesagt - zurückkehrte und der Haufen sich verzog, blieb Maya mit einem seltsamen Gefühl zurück. Soldaten aus Justice, die normalerweise nichts lieber taten als die Clans abzuschlachten, hatten ihre Waffen niedergelegt, um mit ihnen zu reden. Sie wusste nicht, was, aber das bedeutete etwas.

Doch was auch immer aus dieser ausgestreckten Hand werden konnte, Skorpia würde das nicht zulassen. Sie würde ihren Stachel niedersausen lassen, blitzschnell und unerwartet, und dann würde sich ihr Gift ausbreiten, egal wer dabei zu Schaden kam. So sahen das zumindest die Dead Rabbits, als sie am nächsten Tag mit den Soldaten-Anführern paktierten. Doch davon erfuhr Maya zu spät.

Wenn es nur nicht so scheißheiß wäre. Die Sonne brannte ihr in den Nacken, der Lauf ihrer Waffe war unruhig auf die versammelte Schar Justice-Soldaten gerichtet, die sich vor dem Raider-Lager postiert hatte. Es war die zweite Verhandlung an diesem Tag. Die erste war überraschend friedlich verlaufen, doch dieses Mal sollten nicht alle zurückkehren. Skorpia war so berechenbar unberechenbar wie immer ein Streit entbrannte zwischen ihr und dem Anführer der Justice-Truppen, Maya wusste nicht, warum. Skorpias Baseballschläger fuhr nieder, der Justice-Kerl strauchelte, und dann flogen Kugeln durch die Luft und eine Axt trennte Skorpias Kopf von ihrem Körper. Ein irres Lachen entfuhr dem Dead Rabbit, dem sie gehörte. Wut kochte in Maya hoch - natürlich hatte sie die Raiderqueen gehasst, aber wie konnte einer der Clans es wagen, mit Woyzecks Kötern zu paktieren? Schreie ertönten, Skorpias Bruder stürzte sich auf seine Feinde und wurde niedergestreckt, und plötzlich hielten alle inne. Die Luft selbst schien unter Strom zu stehen, ein Zucken eines Fingers genügte und weitere Schüsse würden fallen. Mayas Augen hetzten umher, sie sah ihren Bruder, ihre Schwester, die paar Raider, die ihr widerwillig ans Herz gewachsen waren, und einen Lockenkopf mit Stirnband neben seinem Anführer, der gestern noch die Hand nach Frieden ausgetreckt hatte. Scheiße. Sie wollte nicht, dass noch mehr von ihnen draufgingen.

Maya senkte ihre Waffe. Es blieb ruhig.

Mit klopfendem Herzen zog sie sich schließlich zurück. Die Raider hatten ihre vorübergehende Anführerin verloren. Keine mehr, die sie antrieb. Sie hatten eine Waffenruhe mit Justice und den Mutanten ausgehandelt, doch was würde passieren, wenn Woyzeck Verstärkung schickte? Oder sie die Munitionslieferung erhielten, von der man Maya berichtet hatte? Würden die Raider dann endgültig aus ihrem Territorium vertrieben werden? Wenn verstrahlte Gebiete bald die einzig bewohnbaren Zonen waren, dann gab es nur eine ihr bekannte Möglichkeit, das zu überleben.

"Ich habe dich gesehen in meinem Traum", sagte die Frau in Weiß zu ihr. Hope.

Wie die Mutanten selbst bestand auch ihr Lager aus Widersprüchen. Es war weitläufig, gemütlich, schlecht zu verteidigen, und dazwischen hingen Leichenteile und andere Gräuel. Die Mutanten waren furchteinflößend, anders, und dennoch irgendwie ...erhaben. Wie konnte jemand in einer Welt aus Dreck wandeln und doch so hell und rein bleiben wie Hope?

"Das heißt, ich kann sie überleben? Die..."

"Die Segnung. Ja."

Die Mutanten hatten ihr geholfen, als sie verwundet worden war. Sie hatten etwas Ehrliches, das Maya von den Raidern nicht kannte. Sie hatten ihr sogar erzählt von einem Heilmittel gegen die Ghul-Krankheit, das sie herstellen wollten. Maya wollte ihnen glauben. Deshalb wusste sie auch sofort, was sie zu tun hatte, als zwei Justice-Anführer ein wenig später an sie herantraten.

"Wir haben den Befehl bekommen, die Gegend von allem Nicht-Menschlichen zu säubern. Werdet ihr uns dabei helfen?"

"Ja", log Maya. Die Soldaten sprachen nicht nur von Ghulen. Es hieß jetzt oder nie. Sie mussten die Munitionslieferung an das Justice-Lager aufhalten, das war ihr jetzt klar. Wenn nicht, dann wären zuerst die Mutanten dran und dann die Raider. Waffenruhen bedeuteten nicht viel, wenn man keine Munition hatte. "Woyzecks Unterdrückung wird bei der Vernichtung der Mutanten nicht Halt machen", erklärte sie den Raidern. "Wir müssen uns jetzt wehren und unseren Verbündeten zur Seite stehen!" Ihre Freunde folgten. Die Dead Rabbits blieben.

Und so strömte eine Masse an Mutanten und Raidern gleichermaßen durch den Wald, bereit, sich zu wehren, bereit, die Unterdrückung zu beenden, bereit, zu töten. Eine Mischung aus Wut und nervöser Vorfreude schien die Mutanten zu durchströmen, und zum ersten Mal sah Maya die Ähnlichkeit zwischen ihnen und der Gruppe, die damals ihren Trupp niedergewalzt hatte. Diesmal würde sie auf der richtigen Seite stehen.

Doch dann kam alles anders als geplant.

Das Justice-Lager war unbewacht. Keine Munitionslieferung in Sicht. Keine Bewaffneten, nur ein paar einzelne Wissenschaftler, wehrlos. Die Wut der Meute war blind dafür. Schüsse zertrennten die Stille, qualvolle Schreie folgten. Scheiße, dachte Maya und rannte, um den Eingang des Lagers zu sichern. Und dann stand sie auch schon Justice-Soldaten gegenüber, ausgerechnet Elias und seinem Haufen Wasteland-Neulinge. Du hast deine Seite gewählt. Zu spät zum Umkehren. Sie drückte ab.

Und die Scheißwaffe klemmte.

Der Schock stand Elias ins Gesicht geschrieben, doch er erholte sich schnell davon. "Rückzug!", brüllte er, und sein Haufen verzog sich in den Wald.

Nein, nein, nein, verfluchte sie sich, als Mutanten ihnen hinterher hetzten. Das sind doch die Falschen, das sind doch die .... Sie musste das aufhalten. "Wartet!", schrie sie und folgte den Kämpfenden in den Wald. Um sie herum herrschte Chaos. Maya wusste nur eines - sie mussten abhauen, irgendwie, bevor die restlichen Justice-Soldaten verstanden, was hier geschehen war, wer sie hier verraten hatte... Und so schnappte sie sich den nächstbesten verwundeten Mutanten und gemeinsam humpelten sie aus dem Wald.

Die nächste Stunde war aufgeladen mit nervöser Anspannung. Sicherlich würde sich Justice das nicht gefallen lassen, sicherlich würde ein Vergeltungsschlag folgen? Doch nichts geschah und irgendwann hielt Maya es nicht mehr aus. Begleitet von einigen ihrer neuen Raider-Freunde wagte sie sich mit erhobenen Armen zurück zum Justice-Lager. Wenn dieser Elias die Hand ausstrecken konnte, dann musste sie das eben auch tun. Die Dead Rabbits waren bereits dabei, mit den Soldaten zu verhandeln, als Maya dort eintraf. Dennoch brauchte es ein langes und angespanntes Gespräch, um Elias davon abzuhalten, Maya an Ort und Stelle zu erschießen. Doch schließlich schüttelten sich die beiden die Hand.

Trotzdem wusste Maya, dass diese Geste nicht ausreichen würde, um die Raider und die Mutanten vor einer Rache durch Justice zu bewahren. Sie würde die beiden Gruppen einen müssen, um gewappnet zu sein, und sie wusste nur eine Möglichkeit, das zu tun.

Die Segnung.

Übelkeit machte sich in ihr breit und jede Faser ihres Körpers schrie sie an, den verstrahlten Ort zu verlassen. Ein schleichender Schmerz hielt in ihrem Kopf Einzug und wurde immer quälender, bis sie glaubte, sie müsse explodieren. Doch etwas Ruhiges, Sicheres drang durch den grauen Nebel in ihrem Kopf und sie klammerte sich daran fest: Hopes Stimme.

Als sie die Augen öffnete, wusste sie, sie hatte überlebt. Sie war ein Teil der Familie geworden.

Geschwächt von der Segnung taumelte sie zurück ins Raider-Lager, begleitet von einigen der Mutanten, die sich bereiterklärt hatten, sich zusammenzuschließen. Als die Ghule wieder angriffen, verteidigten sie sich gemeinsam dagegen - selbst als die Monster sich auf die überlebenden Justice-Wissenschaftler und ihren Geleitschutz stürzen wollten, die auf dem Weg zum Raider-Lager waren. Offenbar hatten Woyzecks Leute beschlossen, für den Moment auf ihre Rache zu verzichten, um das Heilmittel gegen die Ghul-Krankheit schneller herstellen zu können. Und so sehr Maya den Soldaten misstraute - sie glaubte zumindest Elias und seinen Leuten, dass das kein Trick war. Trotzdem war es ein seltener Anblick, der sich ihr nun bot: Raider, Mutanten und Justice-Soldaten Seite an Seite in einem Lager, zusammen an einem Heilmittel arbeitend, zusammen gegen die Ghule kämpfend. Es war wie ein Fiebertraum. Doch so absurd diese Paarung war, sie funktionierte. Nach langen ermüdenden Diskussionen und ebenso langen und ermüdenden Kämpfen gab es zwei Resultate: die Ghule waren zurückgeschlagen und das Heilmittel konnte hergestellt werden.

An diesem Abend musste Maya sich von mehreren Dingen verabschieden. Sie musste sich davon verabschieden, ein normaler Mensch zu sein, was auch immer das bedeutete. Sie musste sich von neuen Freunden verabschieden, die ihr seltsam fehlen würden. Und sie musste sich von der Vorstellung verabschieden, dass Justice und Raider natürliche Todfeinde waren. Auch wenn das meistens der Fall war.

Am frühen Morgen würde die Soldatenablöse kommen. Elias und sein Haufen würde zurück nach Justice verschwinden, und andere würden kommen, die nicht erlebt hatten, was hier geschehen war. Doch der Morgen war noch einige Stunden entfernt. Bis dahin saßen sie zusammen am Lagerfeuer und tauschten Alkohol und Geschichten aus. Und ob es am Feuer lag oder am Schnaps, auf einmal war Maya gar nicht mehr so scheißkalt. 

 Alle Fotos die auf dieser Website verwendet wurden stammen von unseren großartigen Fotografen Förb https://www.instagram.com/foerb.foto/  und Jessi https://www.instagram.com/jessitrieshard/?hl=de